Mittwoch, 13. April 2022

Der Weg der Schnecke

 

Wer auf dem Land lebt und kein Auto hat, sollte Geduld haben. Und Leute mit einer bequemen Couch oder einem Gästezimmer kennen.

Vier Stunden vor Anpfiff der Partie verlasse ich mein Haus in Schweppenhausen. Ich gehe zur Dorfmitte, wo die Bushaltestelle ist. Mit dem Bus geht es nach Stromberg, dort steige ich in den Bus nach Bingen. Eine Regionalbahn bringt mich nach Ingelheim. Von dort geht es mit dem Bus nach Wackernheim. Vier Verkehrsmittel, dreimal umsteigen, eineinhalb Stunden Fahrt – für zwanzig Kilometer. Das schafft auch ein geübter Marathonläufer zu Fuß. Chancen für eine Rückfahrt am selben Tag gibt es nicht, weil der Nahverkehr lange vor 20 Uhr die Fahrten nach Schweppenhausen einstellt.

Immerhin hält der Bus direkt vor dem Gasthaus. Ich bin mit vier Freunden zum Essen verabredet. Endlich ohne Maske und Impfausweis. Das alte Leben ist zurück. Corona ist auch kein Gesprächsthema mehr. Diverse Steaks, Schnitzel und Pizzas später sind wir bereit für den ersten richtigen Fußballabend des Jahres. A. besitzt eine Großleinwand nebst Beamer. Da läuft das Bayernspiel. Auf dem Fernseher läuft ohne Ton das Madrid-Spiel. Nur so kann ich arbeiten. Bei großen Spielen wie dem WM-Endspiel 2014 versammeln sich hier bis zu zwanzig Fans, dann müssen allerdings in der Nachbarschaft Stühle geliehen werden. Alles läuft geschmeidig wie in seit den frühen Achtzigern. Weinschorlen werden gemixt, Schnäpse gereicht, Transfergerüchte (Lewandowski zu Barca!) erörtert.

Die beiden Bayern-Fans unter uns hadern mit der Niederlage, aber alsbald wird über Wein gefachsimpelt. G. hat sich erfreulicherweise ins Thema Nahewein (Schweppenhausen hat schon einige Male die Naheweinkönigin gestellt) eingearbeitet und schwärmt von der Vielfalt der Böden, von diversen selbstorganisierten Weinproben und den beiden Weinkühlschränken, die er sich angeschafft hat. Hier wird wenigstens noch mit Niveau gesoffen. Der Gastgeber ist Lehrer von Beruf, kann also am nächsten Tag ausschlafen. Gegen ein Uhr schlafe ich friedlich auf der Gästematratze unter der Großleinwand ein. Am nächsten Morgen fährt mich A. zum Ingelheimer Bahnhof, von dort geht es mit dem Zug nach Bad Kreuznach und mit dem Bus zurück nach Schweppenhausen. Nur eine Stunde Fahrt. Insgesamt vierzig Kilometer. Für eine Schnecke ist das eine Weltreise. Auf dem Weg zu meinem Haus treffe ich die Nachbarsfrau. Sie hat mit ihrem Mann gerade eine ukrainische Flüchtlingsfamilie aufgenommen. Die Weltpolitik hat meine Dorfstraße erreicht.

P.S.: Wundern Sie sich nicht, wenn ich Kommentare erst einen halben oder einen ganzen Tag später freischalte. Ich habe kein Smartphone. Aber Offline-Zeiten sind im Regelfall viel interessanter als Online-Zeiten.

4 Kommentare:

  1. Ich wundere mich - generell in der heutigen Zeit - über rein gar nix mehr 😁🤷‍♀️🥳

    Dein Ausflug, mit sicherem Ziel finde ich so was von 🆗 und nachhaltig 👍

    DA kann die Seele auch mitreisen:

    Lahme Verkehrsanbindungen und/in 2 Tages-Teilabschnitten,
    Muse = Fußball (Bayern hat verloren... grins) + Schlaf vorort
    mit
    Geist = Gesellschaft und Getränke 📺🍷

    SO lässt's sich GUT Leben 🙏 🕉 😇

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  2. Fahrrad !
    Gerne auch mit Elektromotor, in Ihrem Fall.
    20 Km mache ich in 45 Min.
    Ohne Schweißausbruch und ohne E-Bike.

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    1. Den Radschlag habe ich auf dem Weg zur Bushaltestelle von meiner Nachbarin bekommen, die gerade in ihrem Vorgarten die Osterhasen aufgestellt hat. Im Gasthaus habe ich diesen Rat dann von allen vier Freunden bekommen :o)

      Problem: Die Radwege hier auf dem Land. Es gibt sie nicht. Und auf der Landstraße ist es lebensgefährlich. Bleiben die holprigen Feldwege. Und da fahren auch Sie keine 20 km in 45 Minuten. Aus 20 km Luftlinie werden da auch schnell 30 km. Habe ich alles schon x-mal durchdekliniert.

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  3. Natürlich haben Sie Recht.
    Der ÖPNV ist in der Fläche, auch hier auf der Alb, eine Katastrophe.
    Aber keiner, auf jeden Fall zu wenige, sagt was. Und solange sich die Mehrheit auf ihre Autos einen wichst wird sich auch nichts ändern.
    Das Auto ist Religion.
    Ganz einfach. Ein Götze im besten Sinn.

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