Sonntag, 28. Februar 2016

Regenblüten

„Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält.“ (Max Frisch: Mein Name sei Gantenbein)
Eigentlich wollten wir uns nur die neuen Handys ansehen und so gerieten wir in die große Ryan-Entführung. Sie haben sicher davon gelesen. Irgendeine militante Gruppe besetzte damals das gesamte Einkaufszentrum. Ich kann mich gar nicht mehr an ihre Forderungen erinnern. Sie nahmen zwanzig oder dreißig Geiseln und verschanzten sich im Erdgeschoss, nicht weit vom Eingang entfernt.
Sie behandelten uns sehr gut. Wir bekamen warme Decken und so viel zu essen, wie wir wollten. Es war ja auch genug da. Ich meine: wir waren in einem riesigen Einkaufszentrum, dem größten der ganzen Stadt. Am Nachmittag kam ein Kamerateam von draußen und die Entführer gaben eine Pressekonferenz, in der sie der Welt ihre Forderungen mitteilten.
Ein kleiner Mann redete, hinter ihm standen eine große junge Frau und ein großer junger Mann, die jeweils eine Geisel mit ihrem Gewehr bedrohten. Ich kann mich noch genau daran erinnern, dass die Frau sehr gut aussah, allerdings nicht im Profil. Ihre Nase war zu groß, aber wenn sie direkt mit ihrem ernsten und entschlossenen Gesicht in die Kamera schaute, mit ihrem Barett auf dem Kopf – dann sah sie fantastisch aus.
Wir saßen die ganze Zeit herum, aber später kamen irgendwelche Politiker. Ältere Herren in dunklen Anzügen, die sich mit uns unterhielten und uns fragten, wie es uns ginge. Eigentlich konnten wir uns nicht beklagen, aber wir hatten natürlich Angst, dass die Polizei das Einkaufszentrum stürmt und es eine blutige Schießerei gibt.
Nachts musste ich mal auf die Toilette. Ein Mann, der uns bewachte, gab mir die Erlaubnis zu den Toiletten zu gehen. Ich ging durch die Halle in einen hohen Gang und erreichte bald darauf eine Spielhalle. Hier saßen andere Geiseln, die an Automaten spielten. Ich hatte nur die Decke umgehängt und war barfuß. Irgendwie kam ich mit blöd vor, also ging ich zurück und zog mir meine Schuhe und meine Jacke an.
Ich ging wieder in die Spielhalle und fragte eine dunkelhaarige Frau, wo die Toiletten seien. Sie erklärte mir den Weg die Treppe hinunter. Ich ging durch ein riesiges Treppenhaus und kam auf eine Etage, die voller Leute war. Ich drängte mich durch eine Menge von Afrikanern, die alle das gleiche Kostüm trugen, einen langen buntgestreiften Kaftan. Dann kam ich durch eine Gruppe, die als Engel verkleidet waren. Es war ziemlich hektisch und jemand gab mir das Kostüm eines Hotelpagen.
Mit dieser Verkleidung kletterte ich auf eine Theaterbühne und ging nach hinten durch. Die Vorstellung solle gleich anfangen, sagte mir ein großer Mann mit einer Halbglatze. Er war der Regisseur. Er drückte mir ein Bündel Bargeld als Gage in die Hand und sagte, ich solle verschwinden, damit man beginnen könne. Ich verschwand durch die Kulisse und kam in eine leere Halle, von der große Treppen nach oben und nach unten führten.
Dort fand ich nach einiger Zeit einen Farbigen in einer Chauffeuruniform und fragte nach dem Weg zum Erdgeschoss, weil ich mich hoffnungslos verlaufen hatte. Er brachte mich zu einem Aufzug und sagte, ich solle mir nur ein Ziel aussuchen. Ich nahm das Geldbündel aus der Hosentasche und gab ihm einen Fünf-Euro-Schein als Trinkgeld.
Auf den großen bunten Knöpfen des Fahrstuhls standen Ortsnamen wie Detroit, New York oder Los Angeles. Dort konnte man unmöglich mit diesem Fahrstuhl hinkommen. Ich drückte einen Knopf und es blinkte auf dem ganzen Feld der Tastatur, dazu erklang eine fröhliche Melodie. Dann klopfte es von außen an die Glastür des Aufzugs. Ein paar angetrunkene junge Leute wollten auch mal in diesen Spaßfahrstuhl.
Ich stieg aus und ging weiter. Eine Treppe hinauf. Einen Gang entlang. Dann fand ich schließlich einen Ausgang. Ich stand auf dem Bürgersteig und dachte, ich würde den Haupteingang wenigstens von der Straße aus finden. Also ging ich am Einkaufszentrum entlang. Aber die Front von Ryan-Themenrestaurants und Ryan-Shops nahm kein Ende. Ich bog um die Ecke und wieder kam ein Ryan-Laden nach dem anderen. Selbst auf der anderen Straßenseite Ryan, Ryan, Ryan.
Und da wusste ich, dass ich dich nie wieder sehe.
Das war die große Entführung im Ryan-Einkaufszentrum. Es ist schon lange her, aber Sie haben sicher davon gehört. Ich weiß gar nicht, wie sie ausgegangen ist.
P.S.: Es gibt natürlich keine Regenblüten – und diese Geschichte habe ich nur geträumt.
Pink Floyd - Grantchester Meadows. https://www.youtube.com/watch?v=KUZimqkCsXw

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