Dienstag, 23. Februar 2016

Denton Welch

„Es ist durchaus möglich, überwältigend wahrscheinlich, könnte man vermuten, dass wir über das Leben und die Persönlichkeiten von Menschen stets mehr aus Romanen lernen werden, als von der wissenschaftlichen Psychologie.“ (Noam Chomsky)
Am Pfingstsonntag des Jahres 1935 beschließt der zwanzigjährige Kunststudent Denton Welch, seinen Onkel in Surrey zu besuchen. Der wolkenlose Himmel verspricht einen schönen Tag, und Denton wirft nur schnell ein paar Sachen in seine Reisetasche. Das möblierte Zimmer in Crown’s Nill am Rande Londons, in dem er seit einem Jahr wohnt, ödet ihn unsagbar an.
Während er die Treppenstufen hinunterspringt, ist er in Gedanken schon in dem kleinen Landpfarrhaus. Vor dem Haus steht sein Fahrrad, hastig klemmt er die Tasche auf den Gepäckträger. Ohne sich noch einmal umzudrehen, fährt er los. Hätte er in diesem Augenblick gewusst, dass er das Haus nie wieder sehen würde, wäre der Abschied von seiner „Bude“ sicher herzlicher ausgefallen.
Fahrt ins Verhängnis
Wenn ich mich beeile, schaffe ich es bis zum Tee, denkt Denton, als er sein Rad schnaufend die steile Straße zum Blackheath hinauf schieben muss. Der Wind weht stark und drückt das Gras platt auf die Erde. Bald liegt die Heidelandschaft der North Downs vor ihm und er lässt mühelos die Hügel um Lewisham und Catford hinter sich.
Er ist angenehm überrascht, mit den Autos und den Verkehrsampeln so gut zurechtzukommen, da er nur selten mit dem Fahrrad fährt und den Straßenverkehr nicht gewöhnt ist. Wenn eine Ampel auf Rot ist, macht er es den anderen Radfahrern nach und schlängelt sich zwischen den wartenden Lastwagen und Bussen nach vorne durch.
In der Nähe von Beckenham legt Denton eine Rast ein. Es ist früher Nachmittag, und er trinkt einen Kaffee in der Nähe des Golfplatzes. Während er den blassen Gestalten auf dem Rasen zusieht, denkt er voll Freude an die vor ihm liegenden Pfingstferien und das Bild, an dem er gerade arbeitet.
Hitzedunst flimmert auf dem Asphalt, als er weiterfährt. Autos und Lastwagen rasen an ihm vorbei. Die Straße ist breit und schnurgerade, Denton hält sich dicht am Straßenrand und achtet nicht weiter auf den Verkehr.
Wo bin ich?
Durch einen Nebel von Schmerzen und Übelkeit hört er eine Stimme, aber er kann nichts verstehen. Ein Polizist beugt sich über ihn. Vergeblich versucht Denton sich zu bewegen, alles dreht sich um ihn, der Himmel, die fassungslosen Gesichter – schließlich verliert er das Bewusstsein.
Als er wieder erwacht, liegt er in einem Bett. Ein grüner Wandschirm verstellt die Sicht, er ist allein. Sein Körper ist eine einzige große Wunde, das Gewicht der Bettdecke bereitet ihm starke Schmerzen. Endlich kommen zwei Krankenschwestern. Er möchte sie fragen, was passiert ist, doch es kommen nur einige verquollene Töne aus seinem Mund. Er denkt: Wie sollen meine Verwandten mich hier finden? Wie kann ich mich verständlich machen? Ihm wird wieder schwarz vor Augen.
Als er erwacht, hält jemand seine Hand. Verschwommen erkennt er das Gesicht seiner Tante. Zum ersten Mal seit seinem Unfall versucht er zu lächeln.
Der Kampf gegen das Schicksal
Denton Welch kam 1915 als Sohn eines englischen Regierungsbeamten in Shanghai zur Welt. Seine Mutter starb, als er zwölf Jahre alt war. Wie seine Brüder musste er mit vierzehn Jahren ins Internat, aus dem er aber zwei Jahre später weglief. Seine Familie überredete ihn zwar zu einem weiteren Jahr Schule, dann schrieb er sich jedoch – nach einem mehrmonatigen Aufenthalt bei seinem Vater in China – mit achtzehn Jahren an einer Londoner Kunsthochschule ein. Er wollte Maler werden.
Als Denton am nächsten Morgen gewaschen wird, sieht er zum ersten Mal seine Verletzungen: sein Körper ist übersäht mit Schnittwunden, die Beine sind geschient und stark geschwollen, außerdem ist ein Rückenwirbel angebrochen. Am nächsten Tag wirft er einen Blick in den Taschenspiegel einer Kommilitonin, die ihn besucht. Violette Schwellungen und Platzwunden entstellen sein Gesicht. Er ist zunächst entsetzt, doch dann siegt ein Gefühl des Trotzes. Er nimmt sich vor, in ein oder zwei Wochen wieder auf den Beinen zu sein.
Als ihn sein ältester Bruder besucht, erfährt er endlich, was passiert ist. Eine Frau hatte ihn mit ihrem Wagen überfahren. Es herrschte gerade wenig Verkehr, und außer der unglaublichen Achtlosigkeit der Fahrerin gab es keinen Grund für den Unfall. Die anstehende Gerichtsverhandlung interessiert Denton überhaupt nicht. Sein einziger Wunsch ist es, wieder gesund zu werden.
Ein Jahr vergeht
Zähflüssig tropfen die einzelnen Tage für den lebenslustigen Jungen dahin, der den Spitznamen „Punky“ trägt. Kranke kommen und gehen in dem großen Zwölfbettzimmer, einige sterben. Aus der bedrückenden Atmosphäre flüchtet er sich in endlose Tagträumereien und Erinnerungen, seine Phantasie hilft ihm gegen die Anonymität des Kliniklebens.
Anfang Juli wird er in einem Ambulanzwagen in ein besseres Krankenhaus gebracht, doch er fühlt sich weiter wie ein Häftling, der bloß das Gefängnis wechselt. Er hasst dieses Leben, und aus seiner Abscheu wächst der Wille, wieder auf die Beine zu kommen.
Es wird Herbst, und Denton kann den herabfallenden Platanenblättern auf der Straße zusehen. Dann kommen Pfleger und wollen ihn zum ersten Mal in einen Rollstuhl setzen. Als er auf die Beine gestellt wird und das Blut hineinschießt, denkt er, sie müssen platzen. Aber er beißt die Zähne zusammen und setzt sich hinein.
Jeden Tag sitzt er nun am Fenster. Er gewöhnt sich trotz der Rückenschmerzen an die ungewohnte Haltung, und bald fährt er schon allein durch die Gänge. Fünf Monate nach seinem Unfall wird er gewogen – ganze 32 Kilogramm bringt er noch auf die Waage.
Eines Abends, als Denton wieder im Bett liegt, dringt Qualm ins Zimmer. Jäh wird er sich seiner hilflosen Lage bewusst. Wie soll er dem Feuer entkommen? Er schreit mit den Anderen um Hilfe, der Qualm wird dicker. Schließlich kommt ein Pfleger und beruhigt alle. Nur ein verstopfter Schornstein, doch der Schock sitzt tief.
Die Suche nach einer neuen Heimat
Denton schreibt seinem Bruder einen heftigen Brief und bittet die Verwandtschaft, ihm bei der Entlassung aus dem Krankenhaus zu helfen. Weitere Wochen vergehen, in denen er verbissen seine Beine trainiert. Er kann inzwischen alleine aufstehen und einige Schritte mit Krücken gehen. Er kämpft buchstäblich um Zentimeter. Dann ist es soweit: ein Krankenwagen bringt ihn in ein Pflegeheim in der Nähe von Canterbury. Sein Onkel wohnt im gleichen Ort. Zum ersten Mal hat Denton ein Zimmer für sich allein. Er ist überglücklich.
Ungestört kann er Freunde und Verwandte empfangen. Ein Schulkamerad bringt ihm seine Staffelei mit, und Denton beginnt, neue Bilder zu malen. Doch es ist nicht mehr wie früher. Die Kindheitserinnerungen und Phantasiewelten seiner Krankenhauszeit verlangen eine andere Art der Darstellung. Er schreibt Erzählungen, in denen die Schrecken des vergangenen Jahres keinen Platz mehr haben.
Tagsüber macht er mit einer Krankenschwester Spaziergänge, er bekommt regelmäßig Massagen. Als der Winter vorbei ist, kann er alleine laufen. Doch er muss sich damit abfinden, sein Leben lang ein Krüppel zu bleiben. Schon nach wenigen Schritten sind seine Beine erschöpft, und er muss immer noch den halben Tag im Bett verbringen. Hinzu kommen periodisch auftretende Kopfschmerzen. Er wird nie mehr auch nur einen Tag wie seine Freunde leben können.
Das neue Leben
Im Frühjahr 1936 beschließt er, das Pflegeheim zu verlassen. Mit seiner ehemaligen Haushälterin Miss Hellier zieht er in ein kleines Häuschen am Ortsrand von Tonbridge. Er lebt hier bis 1943 und schreibt seine Bücher „Die Freuden der Jugend“ und „Jungfernfahrt“. Es sind frische, unverbrauchte Romane, die durch ihre originelle Sprache bestechen. Er beschreibt alltägliche Dinge, die jeder kennt, und verleiht ihnen eine magische Wirkung. Seine Vergleiche sind verblüffend: „Im Staub des Feldwegs bildeten seine Tränen feuchte Klümpchen wie Tropfen heißer Schokolade“ oder „Die Brotscheiben kamen mit breiten verkohlten Striemen aus dem Toaster, als habe sie ein Schornsteinfeger in der Hand gehabt“.
Das chronische Nervenleiden, heimtückisches Überbleibsel des Unfalls, behindert in mehr und mehr. Er zieht nach Wrotham und arbeitet wieder an seinem Roman „Schicksal“, den er zwei Jahre zuvor begonnen, dann aber zurückgestellt hatte, um die Kurzgeschichtensammlung „Tapfer und grausam“ zu schreiben. Jetzt allerdings sagt er, er habe das Gefühl, nicht mehr viel Zeit zu haben.
Der Tod
Noch im Sommer 1948, lange nachdem die meisten Menschen in seinem Zustand sich damit abgefunden hätten, ein Dasein als Invalide zu fristen, gelingt es ihm Dank seiner enormen Willenskraft, während der immer kürzeren Phasen zwischen den Krisen seiner Krankheit ein normales und sogar arbeitsreiches Leben zu führen.
Dann wird das Leiden selbst für ihn zu schwer. Während der letzten Monate bekommt er Morphiumspritzen, um die ständigen Schmerzen zu lindern. Trotzdem zwingt er sich, weiter zu schreiben, obwohl er davon hohe Temperatur bekommt und mit einer Binde über den Augen regungslos auf seinem Bett liegen muss, bis er sich wieder ein wenig erholt hat. Zuletzt kann er nur noch drei oder vier Minuten am Stück arbeiten, dann bekommt er entsetzliche Kopfschmerzen und sieht vorübergehend nichts mehr.
Die Komplikationen häufen sich, seine linke Herzkammer beginnt zu versagen. Doch er unternimmt immer noch große Anstrengungen, um das Buch zu Ende zu bringen. Fast wäre es ihm auch gelungen. Was immer er am Ende von „Schicksal“ gehofft haben mag – der Tod lässt ihn es nicht mehr aussprechen. Der letzte Satz bleibt unvollendet: „Jetzt, da ich dies schreibe, wünschte ich, ich könnte …“.
Nach dreizehnjähriger Leidenszeit stirbt Denton Welch am 30. Dezember 1948 im Alter von 33 Jahren.
Der Schriftsteller und Literaturprofessor William S. Burroughs schrieb: „So oft mir einer meiner Studenten sagt, er wisse nicht, worüber er schreiben solle, gebe ich ihm den dringenden Rat, einmal Denton Welch zu lesen. Es ist an der Zeit, dass Denton endlich die verdiente Anerkennung findet.“
P.S.: Diesen Text habe ich im September 1987 geschrieben.
Genesis – Undertow. https://www.youtube.com/watch?v=BOd6wYKKB9o

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