Dienstag, 24. Mai 2022

Welcome to Wichtelbach

 

Natürlich war uns allen klar, dass es unser Dorfleben verändern würde, als ein großes Tourismusunternehmen beschloss, unseren Ort ins Programm „Germany in seven days“ aufzunehmen. Die Tragweite dieser Entscheidung wurde uns aber erst später bewusst.

Natürlich hat Wichtelbach einiges zu bieten. Wir haben Fachwerkhäuser, Bauern auf Traktoren, einen Weinberg und eine malerische Mühle, die am Bach steht. Was seit langem fehlt, ist eine Dorfkneipe und ein Tante-Emma-Laden. Die Gebäude stehen seit Jahren leer. Das ist natürlich nicht so schön, wenn zwei Mal in der Woche eine Busladung Japaner, Texaner und Inder an der Hauptkreuzung ins Freie gelassen wird.

Also wurde der alte Finkenkrug wieder hergerichtet. Es gibt Heineken-Bier vom Fass, ansonsten Tee, Kaffee und Softdrinks. Vier glückliche Männer bekommen hundert Euro die Woche, wenn sie zwei Stunden lang am Tresen sitzen und Freibier trinken, während der fünfte Mann den Gastwirt spielt. Das wirke „authentisch“, wie man mir versicherte. Im wiedereröffneten Tante-Emma-Laden verkauft eine wohlbeleibte Bauersfrau mit roten Bäckchen Souvenirs, Kuchen und belegte Bagels.

Drei Rentner, darunter auch ich, werden dafür bezahlt, schweigend auf einer Bank zu sitzen. Die Schiebermützen und Spazierstöcke wurden uns vom Unternehmen gestellt. Alle fünfzehn Minuten donnert Bauer Schubert auf seinem Traktor die Dorfstraße entlang. Im Weinberg steht der Winzer, der sich vertragsgemäß den Schweiß von der Stirn wischt, wenn der Bus vorbeikommt. Auch im tiefsten Winter.

Die Touristen aus aller Welt sind begeistert von dem typisch deutschen Dorf. Nirgendwo Computer oder junge Leute mit Handys. Es wird viel fotografiert. Natürlich lächeln wir nicht, wenn wir auf unserer Bank sitzen. Das hat uns der Marketing-Chef gleich am ersten Tag eingeschärft. Es muss schließlich echt wirken. Mit dem gleichen Konzept hätte man bereits bei den Massai in Kenia, den Apachen in den USA und lamaistischen Mönchen in Nordindien große Erfolge erzielt.

Ich spiele die Rolle des Deutschen sehr gern. Sie ist mir wie auf den Leib geschneidert. Aber wenn ich ganz ehrlich bin, hätte ich am liebsten die Rolle des Schriftstellers im Berliner Szenecafé (letzter Reisetag). 

Change (extended) - Tears for Fears - YouTube

7 Kommentare:

  1. Ich wohnte einst tatsächlich in einem touristischen Ort.
    Witziges Gefühl, wenn Japaner, oder waren es Chinesen, Amis oder sonst was unter der Gartenterasse vorbeischlenderten.
    Wir oben, wie Glumm es beschreibt, am Kiffen und Saufen.
    Einer der Kumpels hatte es mit Muskeln, es stolzierte immer in Badehose am Geländer rum und zeigte sich. Eigentlich affig, trotzdem lustig.
    Das war dann das Bild, daß das Ausland von Deutschland erhielt.
    Somit habe ich immer vollstes Verständnis, wenn ich selber im Ausland irgendwo Einheimische im Garten oder auf der Terasse sehe.

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  2. Der Schriftsteller macht das Café doch erst zur Szene. ZUM BLAUEN EBERLING.

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    1. "Der blaue Eberling ist ein zentrales Symbol der Romantik. Er steht für Sehnsucht und Liebe und für das metaphysische Streben nach dem Unendlichen." (Wichtelbacher Volkslexikon)

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  3. Geben Sie bloß acht, dass die Chinesen Ihr schönes Wichtelbach nicht ebenfalls kopieren & klonen:
    https://www.youtube.com/watch?v=B0LHOunu86Q

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  4. Ich habe das Wichtelbacher Volkslexikon gerade im ZVAB. zu 750 Euro bestellt. Japanpapier. Goldschnitt, Halbleder. Wehe das stimmt mit ihren Angaben nicht überein.

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    1. Ich habe es selbst verfasst. Da stimmt jedes Detail.

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