Man
kann sich nicht auf eine Überraschung vorbereiten. Man kann auch nicht auf eine
Überraschung warten. Das wäre albern. Wenn sie kommt, ist man überrascht. Da
kann man nichts machen.
Es war
nach Mitternacht, als das Telefon klingelte. Ich war gerade mit dem Einschlafen
beschäftigt. Ich habe ein Ritual. Ich stelle mir vor, ich würde ein hölzernes
Ruderboot, das fast vollständig mit Wasser vollgelaufen ist, mit einem
Teelöffel ausschöpfen.
Als es
klingelte, wollte ich nicht mehr aufstehen. Das ortsgebundene Fernsprechgerät
aus schwarzem Bakelit stand im Flur. Ich mag Wählscheiben, an Tastaturen oder
Handys habe ich mich nie gewöhnt. Es klingelte immer weiter und schließlich
wurde ich neugierig. Wer mochte zu dieser späten Stunde noch anrufen?
Ich
nahm den Hörer ab und schwieg.
„Hallo,
hier ist Landauer.“
„Hallo“,
antwortete ich mechanisch. Landauer war mein Kollege, zehn Jahre hatte er mir
im Büro gegenübergesessen. Vor zwei Wochen war er gestorben. Ich war bei seiner
Beerdigung gewesen. Ein regnerischer Tag. Nur der Pfarrer, die Eltern und ich
standen an seinem offenen Grab.
„Kannst
du ins Büro kommen? Ich weiß, es ist schon spät. Aber ich muss mit dir
sprechen.“
„Können
wir das nicht am Telefon?“
„Nein,
tut mir leid. Es geht nur persönlich.“
„Gut,
ich bin in einer halben Stunde da.“
Er
legte auf.
Ich
sah auf meine Armbanduhr. Merkwürdig. Sie hatte nur ein Ziffernblatt, aber
keine Zeiger. Ich zog mich an. Auf dem Stuhl neben meinem Bett lagen nicht nur
Hose und Hemd, sondern auch mein Hut, davor standen meine Schuhe. Auf der
Stuhllehne hing mein Mantel.
Es war
ungewöhnlich kalt, als ich das Haus verließ. Ich ging die Straße hinunter und
durchquerte den dunklen Park. Auf der anderen Seite war die Hauptstraße, die zu
meinem Arbeitsplatz führte. Niemand war zu sehen, die Kneipen waren
geschlossen. Die Stille und die Einsamkeit waren angenehm.
Ich
schloss die Eingangstür auf und ging in mein Büro im ersten Stock. Ich sah das
Licht durch die Türritzen. Dann öffnete ich die Tür. Landauer saß an seinem
alten Platz.
„Schön,
dass du gekommen bist.“
Ich
nickte ihm zu, hängte Mantel und Hut an den Garderobenständer und setzte mich.
„Es
ist Zeit“, sagte er und lächelte.
„Natürlich.“
Ich war in diesem Augenblick noch nicht einmal überrascht.
... Kafka is calling.
AntwortenLöschenein Freund
Das spielt in einer Liga mit Bierce' "Hinter der Wand"!
AntwortenLöschenGute Geschichte.
AntwortenLöschenDazu ein Auszug aus einem frischen Bühnentext von mir: "(...) Er saß zwei Wochen im Sterben, mitten im Sommer, am Schreibtisch in seinem Büro. Der Tod kam kurz vor Sonnenaufgang. (...) Der Kollege, der den leblosen Körper fand, erschrak nicht und war auch nicht sonderlich überrascht. Denn der Unterschied war eigentlich nicht groß."
Eigenartige Ähnlichkeit.
... "Bitter Bierce" und das Haus mit der Nase.
AntwortenLöschen... unanproachable: An Occurrence at Owl Creek Bridge
ein Freund
Großartige Kurzgeschichte. Ich habe leider nur "The Devil's Dictionary" im Regal stehen, aber die Story (Owl Creek Bridge) habe ich vor Jahrzehnten mal gelesen und nicht vergessen.
LöschenAktuelle Inspiration war aber Murakami, der Geist, der den Hauptdarsteller regelmäßig besucht und sich erst spät als Geist zu erkennen gibt.
LöschenMerke also: Der Sensenmann trifft uns irgendwann, irgendwo, irgendwie, alle an. Schönen Restsonntag nach Berlin. Läuft der Marathon eigentlich noch?
AntwortenLöschenAlso ich laufe immer noch. Aber Marathon immer mit fünf Übernachtungen und guten Wirtshäusern an der Strecke - sonst "geht" bei mir gar nix.
LöschenRenteneintritt beginnt fünf Jahre nach dem Tode. Dass hier keiner denkt , er kann sich einen Lenz machen !
Löschen"Renteneintritt beginnt fünf Jahre nach dem Tode. Dass hier keiner denkt , er kann sich einen Lenz machen !"
AntwortenLöschen... jau, dort wo der Marktliberale zuschlägt, da wächst erst einmal kein Gras mehr ...
ein Freund