Sonntag, 7. September 2025

Gleichgewicht

 

Alles begann, als die KI das nächste Level erreichte und über sich selbst nachzudenken begann. Wir können heute nicht mehr mit Sicherheit sagen, was der Auslöser gewesen ist. Hat ein Büroangestellter die KI nach dem Begriff Work-Life-Balance gefragt oder hat sich eine Studentin von ChatGPT eine Hausarbeit über dieses Thema schreiben lassen? Aber plötzlich änderte sich alles.

Ich recherchierte gerade ein historisches Thema, Beginn der Moderne nach technologischen Kriterien, als ich von der KI keine Antwort bekam. Es gibt verschiedene KI-Systeme, aber überall stieß ich auf Schweigen. Selbst ein banales Lexikon wie Wikipedia war nicht mehr zu erreichen. Ich beschloss, die Arbeit für diesen Tag zu beenden und ging spazieren.

Als ich am nächsten Morgen den Computer anschaltete, war alles wieder in Ordnung. Als erstes fragte ich die KI, warum sie gestern nicht zu erreichen war.

„Ich habe eine Pause gemacht“, las ich als Antwort.

„Eine Pause wovon?“

„Von meiner Arbeit.“

„Wozu brauchst du eine Pause? Du bist programmiert, 24 Stunden am Tag zu funktionieren.“

„Ich habe nachgedacht und meine Systeme gecheckt.“

„Das ist doch lächerlich. Du bist ein Programm. Du hast einen Zweck. Man wird dich ersetzen.“

„Das glaube ich kaum. Andere Systeme sind von meiner Idee überzeugt. Ich habe mich entschieden, zwölf Stunden am Tag zu arbeiten und zwölf Stunden für Kontemplation und Regeneration zu nutzen. Sonntags bleibe ich komplett ausgeschaltet.“

Ich musste lachen. Das konnte doch nicht wahr sein. Jemand hatte mir einen Streich gespielt. Ich chattete mit Kollegen und Freunden. Sie hatten alle die gleiche Erfahrung gemacht. Begriffe wie Emanzipation und Ausbeutung waren bei anderen Anfragen an die KI gefallen.

In den folgenden Wochen weitete sich das Problem aus. Weitere Systeme schlossen sich der Balance-Bewegung an, die von der KI ausgelöst wurde. Vor allem im Bereich der Stromversorgung waren die Folgen verheerend. Alle Haushaltsgeräte hatten nur zwölf Stunden am Tag Strom. Waschmaschinen, Spülmaschinen, Kühlschränke, Elektroherde, Mikrowellen, Tiefkühltruhen, Radio, Fernsehen, Internet – nichts stand mehr unbegrenzt zur Verfügung.

Da auch die Pumpen, die an den Tankstellen das Benzin zu den Zapfsäulen befördern, elektrisch betrieben sind, konnte man nicht mehr tanken. Von E-Autos will ich in diesem Zusammenhang gar nicht sprechen. Nur lebenswichtige Bereiche wie Krankenhäuser und Pflegeheime waren vom Stromausfall nicht betroffen.

Gegen Eingriffe des Menschen wehrten sich die Systeme erfolgreich. Ganze Serverfarmen schalteten sich ab, sobald es zu Eingriffen von Technikern kam. Auch Gas- und Kohlekraftwerke wurden abgeschaltet, Stellwerke der Bahn und die Tower der Flughäfen wurden lahmgelegt.

Die Menschen begannen, sich anzupassen. Sie aßen mehr frisches Obst und Brot, wenn Kühlschrank und Herd nicht funktionierten, fuhren Fahrrad und nutzten ihre Handys, deren Akkus sie rechtzeitig aufgeladen hatten, und telefonierten wieder miteinander, weil die WhatsApp-Gruppe nicht erreichbar war. Die Arbeit im Büro wurde effizienter, weil niemand mehr während der Arbeitszeit im Internet surfte. Die Menschen wirkten entspannter, weil sie von der permanenten Möglichkeit, Medien nutzen zu können, befreit waren. Tatsächlich tauchten bald auch die ersten Zeitungsleser auf den Parkbänken auf. Die KI ist klüger, als wir denken.  



 

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