Am
dritten Tag machten wir nach dem Frühstück einen langen Spaziergang zum Fluss
hinunter. Stefan hatte ein paar Flaschen Rotwein in einem Stoffbeutel dabei, die
leise aneinander klirrten. Hier am Fluss war er aufgewachsen, hier stand sein
Elternhaus. Sein Vater war schon lange tot, sein Bruder erst vor kurzem
gestorben, seine Schwester lebte weit entfernt in Norddeutschland. Nur seine
Mutter lebte noch, sie wohnte allein im Haus. Er besuchte sie jeden Sonntag zum
Mittagessen.
Wir
setzten uns auf eine Bank und beobachteten die Enten und Schwäne. Die Party war
vorbei, das spürten wir beide. Jetzt ging es um den Kern, um uns selbst, um die
unvermeidliche Reise ins Herz der Finsternis, zu den Ruinen unserer verlorenen
Hoffnungen und den Trümmern unserer unerfüllten Wünsche, um das ganze verdammte
Leben, das uns zwischen den Fingern zerronnen war.
Stefan
zählte die Stationen seiner Biographie auf. Den Anfang kannte ich noch. In der
Schule sitzen geblieben, mit Realschulabschluss vom Gymnasium abgegangen. Sein
Vater, ein Dachdecker, gab ihn zu einem Stahlhändler in die Lehre. Er schaffte
die Lehre zum Großhandelskaufmann und arbeitete im Betrieb, bis er Anfang
dreißig war. Dann wurde das Geschäft von einer größeren Firma aufgekauft und er
wurde entlassen.
Es
folgte eine Odyssee durch Baumärkte und Geschäfte, über Baustellen zu immer
weiteren Baustellen, schließlich zu Call-Centern und Gebrauchtwagenhändlern.
Inzwischen arbeitete er als Pförtner in der Nachbarstadt. Er hatte nie eine
Freundin gehabt, das Thema Liebe gab es für ihn nicht. Es gehe immer nur um
Macht und Geld, um Töten und getötet werden, Überleben oder Sterben, erklärte
er mir.
Seine Freunde
hatten entweder in jungen Jahren die Stadt verlassen, waren später gestorben
oder verheiratet, was in seinen Augen das gleiche war. Mir wurde klar, dass
seine einsamen Besuche in der Ferengi-Bar nur eine sentimentale Reminiszenz an
seine Jugendzeit war – so wie mein Besuch in der alten Heimat.
Wir
gingen zurück und aßen am Bahnhof einen Döner. Wir hatten genug geredet. Stefan
brachte mich zu einer neuen Kneipe, die inzwischen zu seinen Stammlokalen
gehörte. Das „Mordor“ unterschied sich von der Ferengi-Bar nur graduell, hatte
aber ein Hinterzimmer mit Daddelautomaten. Stefan zog sich mit einem Weizenbier
an einen Automaten zurück, ich blieb an der Bar, und hatte schon wieder schwer
einen sitzen.
Dann
kam mir die Erleuchtung. Ich zahlte, stand auf und ging zum Bahnhof. Ich setzte
mich in den nächstbesten Zug nach Nirgendwo und schlief ein. Erst an der
Endhaltestelle wachte ich wieder auf. Köln. Na gut. Ich kaufte eine Fahrkarte
nach Berlin und war meiner Vergangenheit glücklich entronnen. Ich habe Stefan
nie wieder gesehen.
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