Als
ich zum Bürgermeister gewählt wurde, beschloss ich, mir einen neuen und
standesgemäßen Wohnsitz zu suchen. Ich packte ein paar persönliche Gegenstände,
etwas Wäsche und Proviant in die Satteltaschen meines Fahrrads und in meinen
Rucksack und fuhr los.
Ich
kam durch den Tiergarten, wo Alpakas und Kängurus friedlich nebeneinander
grasten. Ein paar besonnene Menschen hatten damals alle Tiere im nahen Zoo
befreit, die dem Menschen nicht gefährlich werden konnten. Über dem Park
kreisten Steinadler und Geier. Ich fuhr weiter und kam zum Reichstag. Eine
Rotte Warzenschweine suhlte sich auf der Wiese in einem Schlammloch. Das
Kanzleramt war nach seiner Evakuierung gesprengt worden, um alle Daten der
Regierung zu vernichten. Ich vermutete, dass die Bundesregierung wieder in Bonn
war, der alten und neuen Hauptstadt. Deutschland bestand nur noch aus fünfzehn
Bundesländern. Ich betrat den leeren Hauptbahnhof. Auf Gleis 8 stand noch ein
ICE mit offenen Türen. Eine Waschbärenfamilie hatte es sich hier gemütlich
gemacht.
Ich
fuhr durchs Brandenburger Tor und Unter den Linden entlang zum Schloss. Hier
wollte ich wohnen. Als ich an die Eingangstür des Westflügels kam, sah ich,
dass sie aufgebrochen war. Ich ging hinein und rief „Hallo“. Keine Antwort. Ich
ging in den ersten Stock hinauf, dann in den zweiten. Hier waren Menschen. Ein
junges Paar lebte in einem Saal, im Nachbarraum sah man eine veritable
Cannabisplantage. Sie sahen meine Pappkrone und lächelten mich an. Ich stellte
mich vor.
„Hi,
ich bin Andy, der Bürgermeister.“
„Welch
große Ehre“, sagte die Frau, die ein langes Sommerkleid von Dior trug. „Bock
auf ’ne Bong?“
Wir
setzten uns und rauchten. Ich erzählte ihnen von meinem Plan, hier einzuziehen.
Das Schloss sei schließlich groß genug. Notfalls würde ich im Schloss Bellevue
mein Glück versuchen. Sie hatten nichts dagegen und ich schlug vor, im
Ostflügel zu wohnen.
„Da
wohnt schon der König von Berlin. Den solltest du mal besuchen. Das wird
bestimmt lustig. Er hat sogar eine echte Krone aus Gold und einen Zobelpelz.“
„Dann
richte ich mich im Südflügel ein, wenn das okay für euch ist. Da habe ich auch
genügend Sonnenlicht. Ich lese gerne.“
Der
Vorteil am Schloss war, dass es hier keine Skelette gab. Als die Seuche
ausbrach, war die Stadt voller Leichen. Millionen Tote. Nicht nur ihre Seelen,
auch ihr Verwesungsgeruch stieg in den Himmel. Da sie im ersten Stadium der
Krankheit verblödeten, saßen sie vor dem Fernseher und daddelten dabei auf
ihren Handys herum. Dann versagten ihre Beine und sie kamen nicht mehr vom Sofa
hoch. Nach einem heißen Sommer verschwand der Gestank und man konnte sich auf
die Suche nach einer schöneren Wohnung machen. Vermieter gab es keine mehr.
„Du
musst unbedingt den Herzog von Pankow besuchen“, sagte mir Andrej, während er
die Bong ein zweites Mal stopfte. „Er wohnt im Schloss Schönhausen und freut
sich sicher über den hohen Besuch.“
"Vermieter gab es keine mehr"
AntwortenLöschen... hach, schnief ... ich muss weinen — so schön.
ein Freund
Ich wusste es: die Lösung des Problems mit gierigen Berliner Vermietern ist nicht utopisch, sondern dystopisch.
AntwortenLöschenSicher haben auch ein paar Vermieter überlebt, aber bei 99,9 % Leerstand ist natürlich der Wohnungsmarkt zusammengebrochen. Ohne Strom und fließendes Wasser wäre es ohnehin zu erheblichen Mietminderungen gekommen.
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