Ich
bin der Regierende Bürgermeister von Berlin. Ich kann es immer noch nicht
fassen. Und das kam so:
Einmal
im Jahr, am 10. August, treffen sich alle Berliner, die Interesse an der Wahl
zum Bürgermeister haben, auf dem Tempelhofer Feld. Meistens kommen etwa dreißig
bis vierzig Leute zusammen. Der Bürgermeister, der im vergangenen Jahr gewählt
wurde, hält eine kurze Rede, in der er eine Bilanz seiner Amtszeit zieht. Dann
fragt er, wer Bürgermeister werden möchte. Doch in diesem Jahr hatte keiner
Lust. Also stellte ich mich zur Wahl. Der Bürgermeister fragte die Versammelten,
ob sie mich wählen wollen. Etwa die Hälfte hob den Arm und so war ich gewählt.
Er übergab mir die Krone aus Pappe, auf der jemand mit Edding „Bürgermeister“
geschrieben hatte. Als Bürgermeister hat man eigentlich nicht viel zu tun. Es
gibt keinen Etat und keine Senatsverwaltung. Es ist ein rein repräsentativer
Job.
Die
gesamte Bevölkerung der Stadt besteht vielleicht aus ein paar hundert Leuten.
Keiner weiß es so genau, denn sie leben über das gesamte Stadtgebiet verstreut.
Vor sieben Jahren brach eine Seuche aus. Niemand kennt den Patient 0, keiner
weiß, wo sie zuerst auftrat. Manche sagen, es sei im Regierungsviertel gewesen.
Diese Krankheit betrifft das Gehirn, das unaufhörlich schrumpft. Zunächst
verblöden die Leute, dann verlernen sie das Gehen und schließlich versagen die
lebenswichtigen Funktionen. Am Ende ist das Gehirn auf Walnussgröße geschrumpft.
Wir
Überlebenden sind immun, dürfen die Stadt aber nicht verlassen. Als die Seuche
ausbrach, wurde Berlin abgeriegelt und unter Quarantäne gestellt. Inzwischen hat
man einen fünf Meter hohen, elektrisch geladenen Zaun um die Stadt gebaut, der
permanent überwacht wird. Man kann also keinen Tunnel graben oder mit einem
Fesselballon fliehen. Ein paar tausend Idioten, die in den ersten Tagen nach
Ausbruch der Seuche noch die Stadt verlassen konnten, wurden isoliert und sind
längst tot. Die Welt hat Berlin vergessen.
Wir
haben genug zu essen. Die Vorratshäuser sind immer noch voller Konserven, die
einmal für die Versorgung einer Millionenstadt gedacht waren. Mit Samen aus den
Gartencentern hat man Gemüsefelder angelegt. Als es anfangs noch frisches Obst
gab, haben ein paar kluge Köpfe die Samen eingepflanzt, so dass es jetzt
Apfel-, Birnen-, Pflaumen- und Avocadobäume gibt. Auch die Kartoffeln, die man eingegraben
hat, vermehren sich prächtig. Da sich die Natur die Stadt zurückholt, gibt es
auch jede Menge Kaninchen und Tauben, die man jagen kann. Wasser gibt es an den
Straßenbrunnen, die einmal für den Kriegsfall angelegt wurden.
Leider
gibt es keinen Strom. Also kein Licht, kein Handy, kein Internet, Fernsehen oder
Radio. Waschmaschinen und Spülmaschinen funktionieren auch nicht, aber der
Vorrat an Klamotten, Geschirr und Besteck ist unerschöpflich. Alle paar Tage
wechselt man die Unterwäsche und die Teller und besorgt sich was Neues. Wir
sind also eine Wegwerfgesellschaft geblieben. Aber jeder von uns hat eine Villa
oder eine riesige Altbauwohnung. Keiner arbeitet, keine Hierarchien, keine
Deadlines. Alle sind entspannt.
Es
gibt ganze Bibliotheken voller Bücher, so viel kann ich gar nicht lesen. Mit
dem Schund, von dem es genug gibt, machen wir uns Feuer, über dem wir unsere
Mahlzeiten kochen. Aus den Musikfachgeschäften haben die Leute Gitarren,
Trommeln und Blasinstrumente geholt. Wir singen und musizieren zusammen wie in
der guten alten Zeit. Ansonsten herrscht Stille, es gibt keine funktionierenden
Autos mehr, wir gehen zu Fuß oder fahren mit dem Rad.
Ich
habe mir für meine Amtszeit eigentlich nichts vorgenommen, aber ich will
freundlich zu allen sein. Das wäre doch für den Anfang nicht schlecht.
Walnussgröße? Zu groß. Die Stadt der Verrückten lässt sich am besten komplett hirnlos regieren. Und das ist auch gut so!
AntwortenLöschenEin wunderschönes Märchen ...
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