Samstag, 16. August 2025

Mein Leben als Bürgermeister

 

Als ich zum Bürgermeister gewählt wurde, beschloss ich, mir einen neuen und standesgemäßen Wohnsitz zu suchen. Ich packte ein paar persönliche Gegenstände, etwas Wäsche und Proviant in die Satteltaschen meines Fahrrads und in meinen Rucksack und fuhr los.

Ich kam durch den Tiergarten, wo Alpakas und Kängurus friedlich nebeneinander grasten. Ein paar besonnene Menschen hatten damals alle Tiere im nahen Zoo befreit, die dem Menschen nicht gefährlich werden konnten. Über dem Park kreisten Steinadler und Geier. Ich fuhr weiter und kam zum Reichstag. Eine Rotte Warzenschweine suhlte sich auf der Wiese in einem Schlammloch. Das Kanzleramt war nach seiner Evakuierung gesprengt worden, um alle Daten der Regierung zu vernichten. Ich vermutete, dass die Bundesregierung wieder in Bonn war, der alten und neuen Hauptstadt. Deutschland bestand nur noch aus fünfzehn Bundesländern. Ich betrat den leeren Hauptbahnhof. Auf Gleis 8 stand noch ein ICE mit offenen Türen. Eine Waschbärenfamilie hatte es sich hier gemütlich gemacht.

Ich fuhr durchs Brandenburger Tor und Unter den Linden entlang zum Schloss. Hier wollte ich wohnen. Als ich an die Eingangstür des Westflügels kam, sah ich, dass sie aufgebrochen war. Ich ging hinein und rief „Hallo“. Keine Antwort. Ich ging in den ersten Stock hinauf, dann in den zweiten. Hier waren Menschen. Ein junges Paar lebte in einem Saal, im Nachbarraum sah man eine veritable Cannabisplantage. Sie sahen meine Pappkrone und lächelten mich an. Ich stellte mich vor.

„Hi, ich bin Andy, der Bürgermeister.“

„Welch große Ehre“, sagte die Frau, die ein langes Sommerkleid von Dior trug. „Bock auf ’ne Bong?“

Wir setzten uns und rauchten. Ich erzählte ihnen von meinem Plan, hier einzuziehen. Das Schloss sei schließlich groß genug. Notfalls würde ich im Schloss Bellevue mein Glück versuchen. Sie hatten nichts dagegen und ich schlug vor, im Ostflügel zu wohnen.

„Da wohnt schon der König von Berlin. Den solltest du mal besuchen. Das wird bestimmt lustig. Er hat sogar eine echte Krone aus Gold und einen Zobelpelz.“

„Dann richte ich mich im Südflügel ein, wenn das okay für euch ist. Da habe ich auch genügend Sonnenlicht. Ich lese gerne.“

Der Vorteil am Schloss war, dass es hier keine Skelette gab. Als die Seuche ausbrach, war die Stadt voller Leichen. Millionen Tote. Nicht nur ihre Seelen, auch ihr Verwesungsgeruch stieg in den Himmel. Da sie im ersten Stadium der Krankheit verblödeten, saßen sie vor dem Fernseher und daddelten dabei auf ihren Handys herum. Dann versagten ihre Beine und sie kamen nicht mehr vom Sofa hoch. Nach einem heißen Sommer verschwand der Gestank und man konnte sich auf die Suche nach einer schöneren Wohnung machen. Vermieter gab es keine mehr.

„Du musst unbedingt den Herzog von Pankow besuchen“, sagte mir Andrej, während er die Bong ein zweites Mal stopfte. „Er wohnt im Schloss Schönhausen und freut sich sicher über den hohen Besuch.“

3 Kommentare:

  1. "Vermieter gab es keine mehr"
    ... hach, schnief ... ich muss weinen — so schön.
    ein Freund

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  2. Ich wusste es: die Lösung des Problems mit gierigen Berliner Vermietern ist nicht utopisch, sondern dystopisch.

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  3. Sicher haben auch ein paar Vermieter überlebt, aber bei 99,9 % Leerstand ist natürlich der Wohnungsmarkt zusammengebrochen. Ohne Strom und fließendes Wasser wäre es ohnehin zu erheblichen Mietminderungen gekommen.

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