Donnerstag, 3. April 2025

M 1

 

Am Ende blieben nur stumme Zeichen. Etwa einmal im Monat fand ich eine leere Plastikverpackung von Wurst oder Käse in meinem Vorgarten, zerknüllte Werbeblättchen und ähnliches. Wer außer ihm wäre auf die Idee gekommen? Schließlich lebte ich in einem gutbürgerlichen Neubaugebiet am Dorfrand. Ohne Durchgangsverkehr, ohne Fremde, ohne Halbstarke und Betrunkene. Für echten Hass war er zu feige und es gab auch keinen Anlass. Glühender lodernder Hass hätte bedeutet, mir einen ganzen Beutel Müll bei Nacht und Nebel in den Garten zu schütten, die Hauswände zu beschmieren oder vor meine Tür zu scheißen. Ich wusste, von wem es kam. Sollte ich ihm deswegen die Reifen an seinem auseinanderfallenden, fast dreißig Jahren alten Wagen zerstechen? Nein. Ich warf den Müll in die Tonne. Immer wieder. Bis auch das schließlich aufhörte.

Als wir in den siebziger Jahren ins Dorf zogen, wurde kurze Zeit später das Grundstück schräg gegenüber bebaut. Eine Familie aus Norddeutschland. Vater, Mutter, Sohn, Tochter. Irgendwann kam die Mutter zu uns herüber und fragte, ob ich nicht ihren gleichaltrigen Sohn kennenlernen wollte. Ich besuchte ihn, wir hörten Musik und maßen unsere Kräfte im Tischtennis und im Schachspiel. Wir wurden Freunde. Über ihn lernte ich später die anderen Jungs im Dorf kennen. Auch M. Bald darauf besuchte mich nicht nur der Nachbarsjunge, sondern auch er. Ich war immer am Wochenende bei meinem Vater, während der Schulwoche bei meiner Mutter in der Stadt. Ich erinnere mich an endlose Nachmittage, an denen wir Quartett spielten, am liebsten Kriegsschiffe aus den Weltkriegen und Militärflugzeuge. Mein Vater brachte uns Berge von Wurstbroten. Wir rauchten die ersten Zigaretten zusammen und hatten unseren ersten Vollrausch mit einer Flasche Kirschwasser aus den Beständen meines alten Herrn. Ich erwachte morgens in meiner eigenen Kotze, aber immerhin erstickte ich nicht daran wie Jimmy Hendrix.

Ich bin vermutlich der letzte Mensch gewesen, der seine Wohnung betreten hat. Andere Freunde ließ er nicht mehr hinein und seine Familie hatte diese Hölle aus Dreck und Müll ohnehin nie betreten. Im Eingangsbereich ein Meer von leeren Flaschen, an der Garderobe alte Jacken, die er schon längst nicht mehr trug. Im Bad war seit zwanzig Jahren die Toilettenspülung kaputt und man musste mit einem Wassereimer die Fäkalien wegspülen. Ich habe ihm hundertmal gesagt, die Vermieterin würde für die Reparatur aufkommen. Er hat nie einen Handwerker kommen lassen. Der klebrige Boden ist nie geputzt worden. Eine Zahnbürste hatte er am Ende auch nicht mehr, die Zähne verrotteten einfach. In der Küche stand Geschirr in der Spüle und auf dem fettverkrusteten Herd, dass seit Jahren nicht mehr gespült worden war. Die Spülmaschine benutzte er nicht, weil ihm das Ein- und Ausräumen zu mühselig erschien. Der Kühlschrank war immer leer und wurde nur zur Kühlung von Wein, Bier und Jackie-Dosen benutzt. Bei einem unserer letzten Treffen hat er mich tatsächlich um Essen angebettelt. Selbst die Obdachlosen in der Fußgängerzone fragen nach Geld, aber nie nach Essen. Das Schlafzimmer war eine düstere Höhle, mit einer durchgelegenen Matratze auf dem Boden und Kleiderhaufen an den Wänden. Das Wohnzimmer bestand aus Kartons voller Kram, einem ewig zugemüllten Tisch, einem durchgesessenen Sofa, das er mal geschenkt bekommen hatte, und einem Sessel. Schmale Pfade führten durch das Chaos zum Fernseher und zur Stereoanlage, die er in den Achtzigern gekauft hatte.

Mir fallen weitere Anekdoten aus seinem Leben ein. Jeder kennt doch diese Lockvogelangebote mit einem kostenlosen Busausflug plus Gratis-Mahlzeit, auf die verzweifelte oder senile Rentner gerne reinfallen. Er war dabei. Am Abend vor der Abfahrt versuchte er hartnäckig, mich zur Teilnahme zu überreden. Geduldig erläuterte ich ihm das Geschäftsprinzip dieser Gewerbefahrten. Man wird zu einem einsamen Landgasthof gebracht, von dem man nicht fliehen kann, und wird dann so lange von professionellen Abzockern zermürbt, bis man für 500 Euro eine Heizdecke kauft, die im Geschäft nur fünfzig Euro kostet. Er wendet ein, unter den Teilnehmern werde ein Hauptpreis von 100.000 Euro verlost. Ich erkläre ihm, dass der Veranstalter, der den Fahrer, den Bus und das Essen bezahlen muss, mit der gesamten Fahrt überhaupt nicht so viel Geld verdienen kann. Schließlich fährt er allein. Man muss ihm zugutehalten, standhaft geblieben zu sein. Er hat nichts gekauft, schließlich ist er ja auch chronisch pleite. Der Verkäufer hat sich ihn persönlich vorgeknöpft und ihm gesagt, er solle doch zu OBI fahren. Er fragte, warum er das tun solle. Darauf der Verkäufer: Er solle sich dort einen Strick kaufen, in den nächsten Wald gehen und sich einfach aufhängen. Der Hauptgewinn war angeblich in einem Tresor, neben dem ein Körbchen mit Schlüsseln lag. Jeder durfte sich einen Schlüssel nehmen und versuchen, den Tresor zu öffnen. Dann sollte er ihn wieder zurücklegen. Natürlich passte kein Schlüssel, es gab keinen Gewinner und in der kleinen Blechbox waren natürlich auch niemals 100.000 Euro.

 

6 Kommentare:

  1. Diese ergreifende Geschichte von Einsamkeit, Versagen und verlorenen Träumen ist es wert verfilmt zu werden. Als Titel empfehle ich "Blechbox BRD", als Hauptdarsteller entweder Martin Semmelrogge oder Ulrich Matthes. Zur Not ginge auch Torsten Sträter.

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  2. Yea, Fortsetzung folgt. Ich lasse eingeschaltet.

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  3. Werner Enke: "Das wird böse enden."
    Gruß, ein Freund

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    1. Eine Moritat. Die Drehorgelmusik musst du dir dazu denken.

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