Dienstag, 8. Juni 2021

Maske und Spiegel

 

Er hatte sich eine fette Line auf den Spülkasten der Toilette gelegt und den Hunderter zusammengerollt. Verdammt! Das Zeug ätzte ihm die Nasenschleimhaut weg. Was mischten die verdammten Russen ins Kokain? Abflussreiniger? Rattengift? Aber es gehörte zu einem guten Abend im Poor Boy dazu. Berlins angesagtester Club. Fünfzig Euro Eintritt, kein Cocktail unter zwanzig Euro – und für schöne Frauen war alles umsonst.

Er schüttelte den Kopf, zog am Waschbecken ein paar Tropfen Leitungswasser nach und ging zurück zu seinem Tisch. Wo war Samanta? Oder war ihr Name Irina? Vanessa? Egal. Er sog an seinem Long Island Ice Tea. Ihm wurde schwindelig. Hatte ihm jemand was in seinen dritten Drink getan? Dieser Drecksclub. Nur Lärm und Finsternis und sein Geld rauschte durch wie Scheiße durch eine Abwasserleitung.

Als er unter den Tisch rutschte und mit dem Kopf auf dem gefliesten Boden aufschlug, wurde ihm erst schwarz vor Augen. Aber dann wurde es hell. Er blickte auf die Unterseite des Tisches und sah kleine Lichtpunkte. Sie ordneten sich nach einem Augenblick zu Buchstaben. Er las: „Du trägst eine Maske und blickst in den Spiegel. Was siehst du? Komm zur GMI in der Kleiststraße 44.“

Als er am nächsten Morgen verkatert aufwachte, konnte er sich merkwürdigerweise an nichts mehr erinnern. Aber den Spruch hatte er noch im Kopf. Er duschte und rief dann die Fahrbereitschaft des Bundestags an. Er hatte einen Termin beim Bundesverband der chemischen Industrie. Es ging um ein Gesetz gegen Unkrautvernichtungsmittel. Ein Routinejob. Der Verband konnte sich auf seine Partei verlassen. Die FDP-Fraktion würde geschlossen gegen das Gesetz stimmen.

Danach ließ er sich von seinem Chauffeur in die Kleiststraße 44 fahren. Das alte Bürogebäude lag am Stadtrand in Berlin-Karow. Er stieg aus und las die Firmenschilder an der Fassade. GMI. Vierter Stock. Gesellschaft für morbide Infiltration. Darunter konnte er sich nichts vorstellen. Er ging hinein und nahm den Fahrstuhl. Auf der Mattglasscheibe stand in goldenen Buchstaben noch einmal der Name der Gesellschaft. Er klopfte und trat ein.

Vor ihm saß eine uralte Frau in einer Strickjacke. Sie tippte im Zeitlupentempo auf einer Schreibmaschine und brauchte eine Weile, bis sie ihn sah.

„Guten Tag! Mein Name ist Sebastian Geigenheimer. Ich hätte gerne den Geschäftsführer gesprochen.“

Sie lächelte ihn an und deutete auf eine Tür. „Er wartet schon auf Sie.“

Geigenheimer klopfte und öffnete die Tür. Vor ihm saß ein wohlbeleibter Herr mit Glatze, Monokel und Zigarre an seinem Schreibtisch. Er lächelte jovial und bat ihn mit einer Handbewegung, sich zu setzen. Auf seinem Namensschild stand: Vitus Moderer.

„Sie haben also unsere Botschaft bekommen?“

„Ja“, antwortete Geigenheimer und war verwirrt. Handelte es sich hier um einen Scherz seiner Fraktionskollegen? Oder des politischen Gegners aus dem linken Lager?

„Man muss ganz unten sein, um zu uns zu kommen“, sagte Moderer.

„Das war ich gestern Abend.“

„Ich komme gleich auf den Punkt. Die Gesellschaft für morbide Infiltration hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Ende des sterbenden Kapitalismus zu beschleunigen. Wir geben dem System gewissermaßen den letzten Tritt und schaffen auf diese Weise Platz für das Neue. Ich hoffe, ich habe Ihr Interesse geweckt.“

Zu seiner eigenen Verblüffung nickte Geigenheimer.

Peter Gabriel - Red Rain - YouTube

5 Kommentare:

  1. Rauschgift: Eine unverriegelte Tür im Gefängnis der Identität.
    Sie führt auf den Gefängnishof.

    Ambrose Gwinnett Bierce (1842 - 1914)

    ... FORTSETZUNG folgt - oder wie oder WAS ?!?

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  2. Der angezählte Kapitalismus steht
    kurz vor der 10 immer wieder auf, weil sein Kumpel Krieg ihm aus der Patsche hilft. Das ist das Problem.
    Die Hetzer und Kriegstreiber kriechen nicht grundlos aus ihren Löchern.

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    1. Das ist leider richtig. Aber solche kleinen Geschichten sind immer ein Schreibvergnügen. Das Vergnügen als Ersatz für die Hoffnung auf Veränderung.

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    2. lass uns doch etwas hoffen gegen jeden verstand, wenns nicht anders geht. nicht alles ist planbar, nicht alles logisch. ich verliere mit hoffnung nichts, mit hoffnungslosigkeit viel.

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