Sonntag, 24. August 2025

Die große Gereiztheit

 

„Was lag in der Luft? Zanksucht. Kriselnde Gereiztheit. Namenlose Ungeduld. Eine allgemeine Neigung zu giftigem Wortwechsel, zum Wutausbruch, ja zum Handgemenge“.

Im vorletzten Unterkapitel des letzten Kapitels in Thomas Manns „Zauberberg“, das den Titel „Die große Gereiztheit“ trägt, wird eine Stimmung beschrieben, die mich an die Gegenwart erinnert. Kurz darauf verschwindet Castorp, der Hauptdarsteller, den Mann über tausend Seiten so minutiös in Szene setzt, im Fleischwolf des Weltkriegs, im letzten Unterkapitel bewusst vage beschrieben, da er doch, wie alle Bürger, nur Verfügungsmasse der Tyrannen ist.

Mann beschreibt es in seinem Roman als „Infektion“ und ich denke aus der gegenwärtigen Perspektive natürlich an den Corona-Virus, der zunächst Angst und dann – neben seiner tödlichen Wirkung auf Millionen Menschen weltweit – Misstrauen und gesellschaftliche Spaltung verursacht hat. In die entstandene Lücke stießen rechtsradikale Populisten vor und verbreiteten ihr Gift. „Ihr gehört nicht zusammen“, flüsterten sie uns ein. Nicht in der EU, nicht in Deutschland. Menschen verschiedener Herkunft haben nichts miteinander zu tun.

Und wenn wir wieder über Krieg sprechen müssen, denke ich an die imperialistischen Feldzüge der USA und ihrer Verbündeten in Afghanistan und im Irak, die nichts mit den Terroranschlägen der Al-Qaida 2001 zu tun hatten. Ich denke an den Truppenabzug in Kabul, der jeden von uns an Saigon erinnert hat. Wenige Monate später folgte Putins imperialistischer Feldzug in der Ukraine, der bis heute nicht beendet ist. Das Gift wirkt weiter, die USA werden gerade zu einer Autokratie, die das Militär gegen die eigene Bevölkerung einsetzt und Wirtschaft, Justiz und Medien unter ihre Kontrolle bringt.  

Die Gemäßigten, die Klugen, die Ratlosen, die Zweifler stehen stumm und mutlos neben brüllenden Idioten. „Es kann nicht mehr so weiter gehen.“ „Jetzt ist Schluss.“ „Wir haben lange genug gewartet.“ Wer stellt sich dieser Aggression entgegen? Politiker? Sie sehen mit dem Blick des erfahrenen Raubtiers nur die Bewegung, nicht die Bewegungslosen. Sie machen sich die Energie zu Nutze, sie leiten sie auf die Mühlen ihrer persönlichen Ziele. Die schweigende Mehrheit ist politisch in der Minderheit. Also wird aufgerüstet, ausgegrenzt und abgeschoben. Grenzkontrollen, Zollschranken, Nationalismus.

Zu allen Zeiten mündete der Zorn in Gewalt. Noch ist das Ausmaß offen. Am Ende des Unterkapitels treffen sich Settembrini und Naphta, die sich jahrelang leidenschaftlich mit Worten duelliert hatten, zu einem mörderischen Zweikampf. Der Humanist Settembrini schießt in die Luft, sein wütender Widersacher protestiert und schießt sich in den Kopf.

 

4 Kommentare:

  1. "sein wütender Widersacher protestiert und schießt sich in den Kopf."
    Besser ist es zu ignorieren "Trump? kenne ich nicht. Wer soll das sein?"
    ein Freund

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    1. Ich kenne Leute, die sich überhaupt keine Nachrichten mehr ansehen. Ist vermutlich auch besser.

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    2. yepp, hat nem Bekannten die Hausärztin geraten ... Weniger Nachrichten = weniger Pillen.

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  2. Passendes Zitat, treffende Analyse. Der "Zauberberg" war lange mein Lieblingsroman, ich hab ihn bestimmt zwanzigmal gelesen, und die Freundfeinde Naphta und Settembrini gehörten zu meinen Lieblingsfiguren. Beide hatten ihre Ideale und auch sonst so einiges im Kopf, aber genützt hat es am Ende nichts, ihnen nicht und dem Rest der Menscheit auch nicht. Ich fürchte, diesmal wirds ähnlich ausgehn, oder schlimmer.

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