Freitag, 23. Dezember 2022

Überall Gegend

 

„Der Winter kommt hier oben sehr früh“, sagte der Fahrer. „Ab November schneit es. Bis zu fünf Meter hoch. Dann kommt man hier nicht mehr hin.“

„Was machen die Menschen, die hier leben?“ fragte er.

„Nichts. Sie kommen hier nicht mehr weg. Sie bleiben einfach zuhause.“

„Sie sitzen also monatelang in ihren Häusern und machen gar nichts? Wie hält man das aus?“

„Was die Tiere im Stall auch machen. Sie fressen, scheißen und starren in die Gegend.“

„Und was noch?“

„Früher haben sie Karl May gelesen, jetzt sehen sie Netflix.“

***

Das Treppenhaus war deprimierend. Verbrauchte Luft von verbrauchten Menschen. Der Geruch von Verlierern: Schweiß, Pisse, Armut und Blumenkohl. Aber Detective Osbourne Schlotzky musste an jede Tür klopfen.

Wer würde ein sechszehnjähriges Mädchen aus diesem Haus entführen? Wahrscheinlich lag sie schon als Crack-Nutte im Rinnstein hinter irgendeinem Bahnhof.

Der Mann, der ihm die Tür öffnete, war klein und untersetzt. Auf seinem Feinripp-Unterhemd waren Eigelb, Asche und irgendetwas Grünes. Diese Befragungen in der Nachbarschaft zogen ihn immer runter.

***

Ein paar Tage später meldete sich der Vater des Mädchens, als Schlotzky gerade in der Kantine ein paniertes Seelachsfilet mit Kartoffelsalat aß. Das vermisste Mädchen hatte mit seiner Kreditkarte zwei Flüge nach Spanien gebucht. Gerade hatte er eine Mail bekommen. Sie lebte inzwischen mit ihrem Freund auf einem Campingplatz in Andalusien.

Sie hatte ihr langweiliges Leben, ihr langweiliges Dorf und ihre langweilige Schule hinter sich gelassen. Schlotzky beneidete sie. Eine gute Entscheidung. Sie war aus der Kälte in die Wärme geflohen.

In ein paar Monaten würden die beiden vermutlich zurückkommen und ihr Leben lang an ihre Flucht aus dem Alltag denken. Irgendwann würden ihnen ihre miesen Jobs in Spanien und das Leben im Zelt auf die Nerven gehen. Sie würden ihren Schulabschluss nachholen und später in die Stadt ziehen.

5 Kommentare:

  1. Ich wünsche schon mal gute Feiertage. Ich habe auch dieses Jahr wieder sehr gerne hier gelesen.

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    1. Vielen Dank. Wünsche ich dir auch. Ein paar Texte kommen noch, z.B. der Jahresrückblick 2023.

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  2. Als ich in der Jugend, vor Äonen, Zeitschriften ausgefahren bin, mit dem Rad, waren mir gerade diese Häuser, Gestank nach Pisse, Bluhmenkohl und Armut, am liebsten.
    Denn hier gab es, gerade in der Weihnachtszeit, auch mal einen Heiermann Trinkgeld.
    Für die Spätgebohrenen, Heiermann = 5 Mark Stück.
    Das war richtig viel Geld !!
    Im Villenviertel durfte man auf 5 Pfennige aufrunden. Zu Weihnachten.
    Friede den Hütten, Krieg den Pallästen.

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    1. Das ist auch heute noch so. Reiche Leute geben Obdachlosen kein Geld.

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  3. .......das ist doch klar...der alte Oetker hat sein Vermögen auch gemacht, indem er die Seifenreste nie weggeworfen hat, sondern immer schön zusammengepresst und weiter verwendet hat....von nix kommt nix.....

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