Montag, 24. Juli 2023

Berliner Gedanken

 

Stadtmauern hat es in der Geschichte schon viele gegeben, aber nur eine Mauerstadt.

„Berlins völlige Verwahrlosung“ (Wolf Jobst Siedler), Schmutz, Gewalt, Graffiti, organisierte Kriminalität. Ich lese gerade ein Buch aus den Neunzigern (Bodo Morshäuser: Liebeserklärung an eine hässliche Stadt), in dem der Autor sich über die Untergangsphantasien der Konservativen lustig macht, die 2023 noch genauso klingen.

Früher hieß es immer Ost-Berlin und West-Berlin. Über Nord-Berlin und Süd-Berlin hat niemand gesprochen.

In Marzahn gibt es eine Allee der Arbeitslosen.

Nur noch zwanzig Prozent der Berliner gehören einer christlichen Kirche an.

Wenn ich wissen will, was der Osten denkt, gehe ich in den Rentnertreff „Prager Hopfenstuben“ an der Karl-Marx-Allee. Wie zu DDR-Zeiten hakt es an allen Ecken und Enden, die Kühlung der Zapfanlage funktioniert nicht (der Hochsommer ist der ideale Zeitpunkt für einen solchen Defekt) und nicht alle Biersorten sind vorhanden. Ich bestelle zum Bauernteller ein Pilsner Urquell mit Eiswürfeln. Am Nachbartisch machen renitente Zonis einen auf dicke Hose. Man hätte jedem erwachsenen DDR-Bürger nach der Wende 100.000 Mark geben müssen, schwadroniert einer. Dann hätte sich jeder „freischwimmen“ können. „Die“ haben doch genug Geld. In meinem folgenden Tagtraum schlendere ich zum Nachbartisch und ziehe den Wortführer an den Nasenlöchern, in denen Mittel- und Zeigefinger meiner linken Hand stecken, in die Höhe. Wieso ich als Westdeutscher, damals 23 und Student, nicht auch ein Anrecht auf die gleiche Summe hätte? Was er als Gegenleistung zu tun gedenke? Dann befördere ich ihn mit einem Obelix-Fausthieb aufs Dach.

Am Anfang ist der Ku’damm ein Star, belagert von seinen Fans, den Touristen aus aller Welt. Hier pulsiert das Leben bei Tag und Nacht. An seinem Ende ist er ein kleiner Angestellter, dessen Namen niemand kennt.

Berlin in den Neunzigern: Der Vietkong hat alle Eingänge zur U-Bahn besetzt und jeder von ihnen hat eine Stange Fake-Marlboro im Anschlag.

Es ist Sommer und ich trage mein Kreuzberger Hawaiihemd: schwarze Blumen vor schwarzem Hintergrund.

1901: Die Technische Hochschule Charlottenburg lehnt die Bewerbung Albert Einsteins ab.

Man lernt nie aus. Seit 32 Jahren lebe ich in Berlin, die letzten zehn Jahre in Teilzeit. Erst jetzt erfahre ich aus dem Buch „Einstein in Berlin“ von Hubert Goenner, dass der breite Streifen zwischen den Fahrspuren „Unter den Linden“ der private Reitweg des Kaisers und seiner Entourage war. Vom Schloss ging’s hinaus in den Tiergarten, die Bürger lüpften artig den Hut, die Damen machten einen Knicks, wenn er vorbeiritt. Ich wette, selbst alteingesessene Berliner wissen das nicht.

Die Ukraine erinnert mich an West-Berlin vor der Wiedervereinigung. Die Stadt war ohne westliche Subventionen nicht lebensfähig, aber das Überleben der Frontstadt inmitten des sozialistischen Feindeslands war politisch erwünscht. Geld gibt es im Kapitalismus genug, die kleine Mauerinsel überlebte die DDR und die UdSSR. Auch die Russen werden eines Tages merken, dass man Geld nicht besiegen kann. Es ist die ultimative Waffe.

Möbel-Hübner macht jetzt in Berlin Werbung mit dem Begriff „Lebensraum“. Dem Führer hätte es gefallen.

Potemkin, Viktoria-Luise-Platz. Sensationell gutes Boeuf Stroganoff mit Bratkartoffeln. Auf dem Rückweg komme ich an meinem Stammchinesen vorbei. Der Wirt steht vor dem offenen Kofferraum seines Wagens. Und was holt er heraus? Zwei Pizzakartons und eine Tüte von McDonald’s. Ich klopfe ihm von hinten auf die Schulter und sage: "Du weißt auch, was wirklich gut ist.“ Er nimmt es mit Humor.

Als ich eines Sonntagmorgens die Wohnungstür öffne, um frühstücken zu gehen, finde ich ein kleines Päckchen auf der Fußmatte, auf das eine lächelnde Sonne gemalt ist. Ich öffne es und entdecke ein Schälchen mit Heidelbeeren. Welche nette Nachbarin hat an mich gedacht? Es kann nur von einer Frau sein, Männer machen so etwas nicht.   

2 Kommentare:

  1. "Am Anfang ist der Ku’damm ein Star, belagert von seinen Fans, den Touristen aus aller Welt. Hier pulsiert das Leben bei Tag und Nacht. An seinem Ende ist er ein kleiner Angestellter, dessen Namen niemand kennt."

    Der Star hat nur einen Wasserklopps, der kleine Angestellte seit 1987 Zwei Beton-Cadillacs in Form der Nackten Maja!

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    1. Das Ende ist sowieso viel geiler: Nackte Weiber am Halensee und das Artemis.

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