Freitag, 24. März 2023

„Voraussichtlicher Beginn einer Befreiung: ca. 30 Minuten nach Eingang des Notrufes“

 

Eines Tages musste es ja passieren. Ich bin 56 Jahre alt und wohne seit über dreißig Jahren in diesem Haus.

Sonntagmorgen, 7:15 Uhr. Ich steige in den Fahrstuhl. Nach zwanzig Zentimetern ist die Reise zu Ende. Die Tür lässt sich nicht mehr öffnen, ich stecke fest. Was tun? Knöpfe drücken, an der Tür rütteln. Dann der Alarmknopf, den sonst nur Kinder drücken. Die Stimme einer Frau. Ich gebe die Adresse durch. In etwa dreißig Minuten darf ich mit meiner „Befreiung“ rechnen. Eigentlich wollte ich nur zur Bäckerei gegenüber. Bin barfuß in die Hausschuhe gesprungen und habe mir eine Regenjacke übergeworfen.

Nun stehe ich auf einem guten Quadratmeter Aufzugsboden aus der Kaiserzeit und habe zum ersten Mal die Gelegenheit, mir die Kabine genau anzuschauen. Flecken, Kratzer, die Paragraphen der Bedienungsanleitung. Tatsächlich auch zwei geritzte Graffiti links und rechts. Dollarzeichen. Kapitalismuskritik oder Verherrlichung des Neoliberalismus? In Wilmersdorf ist das nicht so klar.

Nach einer Stunde meldet sich die Frau von der Notrufzentrale wieder. Sie möchte wissen, wie es mir geht. Es ginge mir besser, wenn ich schon meine Frühstücksbrötchen hätte. „Verkehrsbedingt“ verzögere sich die Hilfe. In Berlin gibt es sonntagmorgens keinen Verkehr. Ich setze mich auf den Boden. Man kann hier noch nicht mal die Beine ausstrecken. Stille. Ich höre niemanden im Treppenhaus.

Eine halbe Stunde später erscheint der Mechaniker. Durch die geschlossene Tür teilt er mir mit, dass er selbige nicht öffnen könne. Aber im Keller sei eine Handkurbel. So komme ich nach eineinhalb Stunden doch noch frei, um meinen Weg zur holden Bäckerin fortzusetzen. Ich erzähle ihr von meinem Erlebnis. Sie fragt, ob ich Angst gehabt hätte. Ja. Mein größter Horror: Auf’s Klo müssen. Ich hatte noch nicht mal Taschentücher dabei. Was ich die ganze Zeit gemacht habe, möchte sie wissen. Hätte ich doch nur ein Smartphone, aber selbst mein altes Nokia habe ich zuhause gelassen. Sie versichert mir, sie hätte einen Herzinfarkt bekommen. Aber ich bekomme immerhin ein Croissant, ein halbes Brötchen mit Rührei und ein halbes Brötchen mit Lachs.

Auf dem Rückweg nehme ich die Treppe.

P.S.: Am 1. März hatte ich mir mal wieder das I Ging gelegt. Dort stand in der Interpretation des Zeichens folgendes: „Oben eine Sechs bedeutet: Mit Stricken und Tauen gebunden, eingeschlossen zwischen dornenumhegten Kerkermauern; drei Jahre findet man sich nicht zurecht. Unheil!“ Jetzt weiß ich, was gemeint war.

 

2 Kommentare:

  1. Eineinhalb Stunden. Für Berlin nicht schlecht. Vielleicht sollte man doch das gute, alte Reclamheft überall mit hinnehmen.

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    1. Gute Idee. Schillers "Räuber" aus dem Deutsch-Leistungskurs. Da vergeht die Zeit wie im Flug :o)

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