Freitag, 31. Juli 2020

Warum wir nicht mehr auf den Auslöscher drücken sollten


Neulich saß ich mit ein paar Freunden auf der Terrasse eines Restaurants und wir sprachen über unsere Reisepläne. Wir stellten fest: Es gibt keine. Alle bleiben in diesem Sommer zuhause und selbst für den Herbst sind bestenfalls Wochenendausflüge geplant. Keiner hat in diesem Jahr in einem Flugzeug gesessen, keiner hat ein Hotel gebucht. Diverse Reisen sind natürlich wegen Corona storniert worden, aber ich konnte ein generelles Desinteresse am Reisen feststellen.

Vielleicht liegt es an unserem Alter. Wir haben schon alles gesehen. Nimmt man die vergangenen Reisen aller Beteiligten zusammen, ist die Weltkarte fast komplett. Nord-, Mittel- und Südamerika, Karibik, Nord-, Ost- und Südafrika, Russland, China, Japan, Indien, Australien, Indonesien und Europa sowieso komplett. Jetzt erzählen mir die Leute von der „rheinhessischen Toskana“ oder dem Rheingau. Ich selbst war seit acht Jahren nicht mehr im Ausland und ich habe – Pandemie hin oder her – nicht das geringste Interesse, mich in den nächsten Jahren wieder auf den Weg zu machen.

Es bleiben die Erinnerungen. Dabei habe ich festgestellt, dass ich keine Fotografien von meinen Reisen habe. Die Ausnahme sind drei Prag-Reisen in den Achtzigern, als ich mit Schwarz-Weiß-Aufnahmen Kafkas Welt dokumentiert habe. Ich war auf der Golden Gate Bridge und der chinesischen Mauer, ich war im Louvre und im Kreml, ich habe Löwen und Elefanten in freier Wildbahn gesehen und im Amazonas-Dschungel übernachtet. All das habe ich nur als Bild im Gedächtnis, es gibt keine Fotos.

Die Menschen, mit denen ich unterwegs war, haben allerdings fotografiert und mir einige Bilder hinterlassen. Merkwürdigerweise sind es hauptsächlich Fotografien von mir. Mein Gesicht interessiert mich jedoch als Reiseeindruck am allerwenigsten. Schließlich sehe ich es sowieso jeden Tag im Badezimmer. Ich bin froh, dass ich meine Zeit nicht mit Fotografieren verschwendet habe. Viele Menschen investieren ihre Zeit und ihre Energie in Urlaubsfotos, anstatt den Anblick einfach zu genießen. Man kann sich die Zeit nehmen und eine halbe Stunde eine schöne Landschaft betrachten – oder man macht ein Foto und hetzt weiter. Schließlich hat man sie ja „im Kasten“.

Gar nichts hat man. Die kleinen Bilder, die man nach Hause mitbringt, vermitteln nichts von der wahren Größe und Schönheit eines Anblicks. Ich kann mich noch nach Jahrzehnten an einzelne Reiseszenen erinnern, weil ich schon auf der Reise wusste, dass mir nichts außer der Erinnerung bleiben würde. Diese Bilder habe ich immer bei mir, der verregnete Morgen auf dem französischen Campingplatz, als wir uns mit einer paar Flaschen Cinzano in mein Auto gesetzt und Musik gehört haben, während sich draußen die Côte d’Azur der versprochenen Postkartenidylle verweigerte, das nette Gespräch mit dem Rentnerpärchen in einem Waschsalon in Boston.

Was wird aus den vielen Urlaubsfotos? Bestenfalls werden sie einmal angeschaut und dann vergessen. Sie sind nur ein Surrogat. Wir können unser Gedächtnis nicht mit den Mitteln der modernen Technik auslagern. Mir helfen meine Notizen, die ich mir auf den Reisen mache. Ein paar Stichwörter, ein paar Sätze. Manchmal schreibe ich auch nach meiner Rückkehr ein paar Seiten. Wenn man Jahre später zufällig über diese Notizen stolpert, geht eine Tür auf. Der Abend in einem walisischen Pub, am Nachbartisch spricht man Gälisch. Allein auf den Stufen einer antiken Ruine auf Capri, weil man keine Lust auf die blaue Grotte hatte. Das kleine Kind im Zugabteil, das mir großzügig ein Stückchen von seiner Brezel anbietet.

Die Bilder, die wir in unseren Fotoalben und Handys haben, können uns nichts bieten, wenn es ums Reisen geht. Sie halten diese Momente nicht fest. Sie erzählen keine Geschichte, sie sagen nichts darüber aus, wie wir uns in diesem Augenblick gefühlt haben. Wenn man den Auslöser drückt, löscht man Erinnerungen aus.


11 Kommentare:

  1. Ein schöner ,,Tippfehler'' in der Überschrift! :-)
    Mir geht es auch so: Persönliche Notizen haben einen höheren Erinnerungswert als Fotos. Auch wenn ich gerne hier und da gerne einen Schnappschuss mache, so sehr vergesse ich auf Reisen sogar, Bilder zu machen. Am ersten Tag knipse ich noch pflichtbewusst herum, aber spätestens am zweiten Tag bleibt die Kamera / das Smartphone in der Tasche.

    Noch eine kleine Anekdote zu den Fotos, auf denen man sich selber sieht:
    Letztens haben ein Freund und ich eine Burg in der näheren Umgebung besucht. Er wollte *unbedingt* ein Foto von mir mit meiner Kamera machen. Ich meinte nur: ,,Ich weiß doch, wie ich aussehe!'' :-)

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    1. Ich nenne diese Urlaubsporträts immer "Beweisfotos". Ich vor dem Eiffelturm, ich vor dem Reichstag usw.

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  2. (habe ganz vergessen, ,,Ich möchte Benachrichtigungen erhalten'' anzuklicken.)

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  3. Mit dem Fotoapperat habe ich einige Fotos in Alben... aber seit ich´s Handy habe ... und DAS sind jetzt - s t a u n e selbst - 20 Jahre,
    wandern die Bilder in´s Nirgendwo...
    gespeichert, weiß nicht mehr WO, verloren und vergessen !!!

    Wir erinnern uns nicht an verschiedene Tage, wir erinnern uns an Momente.
    We do not remember days, we remember moments.
    Cesare Pavese

    Mattias... Wie DU sooo SCHÖN schreibst, die ERINNERUNGEN bleiben, in einem selbst !!!

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    1. Danke, Engelchen. Schön sind ja auch Geschichten, die man von Reisen erzählen kann. Viel besser als der gefürchtete Dia-Abend.

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  4. Ich lehne Bilder nicht so kategorisch ab. Aber tendenziell bin ich dabei. Schon früher wurden viel zu viele Fotos geschossen...und dann auch meist noch als Porträt. Heutzutage ist das völlig pervertiert.
    Ich habe bisher Europa nie verlassen (Jahrgang 78), hegte aber auch nie den extremen Wunsch danach. Ich nehme bei ca. 95% meines Umfeldes auch nicht wahr, dass ihnen das irgendwas jenseits von abhaken einer Liste gebracht hätte.

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    1. Das kann ich nur unterschreiben.
      Wenn ich bei mir in der Fa. die Typen anschaue, die als Reisemonteure schon auf der ganzen Welt waren, und vor allem dort wo die Welt ungeschönt war, in Fabriken, dort wo es weh tat, von den Einheimischen Kollegen eingeladen wurden u.s.w., dann muß ich festellen, daß Reisen doch nicht so sehr bildet.
      Diese Leute haben immer noch eine ungebrochene Meinung über die Welt und Deutschland.
      Ab wann ist man ein Obermonteur ?
      Wenn man schon mal eine Schwarze gevögelt hat. O-Ton.

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    2. In früheren Zeiten hat Reisen gebildet, da waren die Leute Monate, manchmal Jahre unterwegs. Aber die moderne Kurzreise, v.a. in der Club-Urlaub, bildet nicht.

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  5. Hängt aber ab und an von den Fotos ab. Ich habe Landschaftsaufnahmen getätigt. Während ich mir Zeit für das Areal nahm. Da gibt es dann schon Momente, mit einem gewissen Aha. Sowas lief aber nur nebenbei, wenn ich etwas schön oder skurril empfand und schon gar nicht ständig. Früher habe ich auch nie Fotos geschossen. So ein paar Sachen sind dabei aber bedauerlich, da es ganze Landschaften nicht mehr in der Form gibt, in der ich sie noch bewundern dürfte.

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    1. Ich nutze heute das Internet und Google Maps Streetview, wenn ich Bilder von fernen Orten sehen möchte.

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    2. Ich National Geographic. Aber leider findet man selten, wie der Ort vor 30 Jahren aussah. Nicht selten will ich aber auch den Leuten hier entfliehen. Da muss man dann schon raus.

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