Ottilia
Hufnagel hatte sich ihr Leben anders vorgestellt. Eigentlich wollte sie
Tierärztin werden, aber mit einem Abi-Schnitt von 3,2 war das natürlich nicht
drin. Also ging sie nach Berlin und studierte Theaterwissenschaften im
Hauptfach, Komparatistik und Anglistik im Nebenfach. Theater, Film, Fernsehen.
Das hätte ihr sicher Spaß gemacht. Sie fing an zu kiffen und war ein Jahr
später auf Psychopharmaka. Sie sah aus wie eine graue Maus und kleidete sich
auch so. Sie kam in keinen Club und hätte sie Freundinnen oder Freunde gehabt,
hätten sie Ottilia sicher als „ungebumst und ohne Hoffnung“ beschrieben. Immerhin
kannte sie ein paar Leute in Online-Rollenspielen.
Nach
drei Semestern und einem unbezahlten Praktikum in einem Kostümfundus fing sie
bei einem Gebrauchtwagenhändler an. Ihre Aufgabe war es, die Wagen auszuräumen
und zu putzen. Nichts ist deprimierender als ein Gebrauchtwagen. Sie riechen
nach Zigarettenrauch, Schweiß und Fastfood, die Sitze sind jahrelang mit
Blähungen imprägniert worden. Auf dem Rücksitz liegen Prospekte, Zeitungen und vollgekritzelte
Malbücher. Auf dem Boden zerknüllte Taschentücher, Kronkorken und
abgeschnittene Fingernägel. Im Handschuhfach Quittungen von Tankstellen,
Rabatt-Coupons von Supermärkten und Gebrauchsanweisungen für irgendwelche
Geräte. Im Kofferraum ein platter Reifen, zerschlissene Decken und eine kaputte
Kühltasche. Die ganze Hässlichkeit und Banalität der Menschheit fand sich in den
uralten Schrottmühlen, die bei ihnen abgegeben wurden.
Sie
hatte keine Vorstellung von der Zukunft. Dann lernte sie Tamara Herzbruch kennen.
Sie brachte einen Opel Corsa mit über 200.000 Kilometern auf dem Tacho vorbei,
der bis auf einen Gedichtband leer und völlig geruchlos war. Als Tamara aus dem
Büro des Chefs kam, mit 1500 Euro in der Handtasche, gab ihr Ottilia das Buch.
„Feinde, Fremde, Frauen“. Das klang interessant. Sie unterhielten sich eine
Weile über Literatur und beschlossen dann, einen Kaffee trinken zu gehen. Tamara
erzählte ihr, sie wolle mit dem Geld einen Ostseeurlaub finanzieren. Sie sei
seit zwei Jahren in Berlin und habe noch nie das Meer gesehen. Ihre Eltern
hatten einen Bauernhof, da sei an Reisen nicht zu denken gewesen. Bauernhof.
Genauso sah sie aus. Strickjacke, Bluse, braune Halbschuhe. Sie hatte eine
Pagenfrisur und schnitt ihr Pony offenbar selbst. Kein Schmuck, kein Nagellack,
kein Freund.
In den
nächsten Wochen sahen sie sich wieder. Endlich hatte Ottilia eine Freundin in
Berlin. Tamara las ihr selbstgeschriebene Gedicht vor, die grauenhaft schwermütig
waren und nach Poesiealbum Grundschule klangen. Im Juli buchten sie eine
Pauschalreise nach Rügen. Mit dem Bus, Doppelzimmer mit Frühstück. Schon bei
der Anreise begann das Unglück. Vor ihnen saßen zwei junge Männer, die mit
jeder Dose Bier immer fröhlicher wurden. Schließlich drehten sie sich zu ihnen
um und fragten nach ihren Namen. Über Ottilias Namen lachten sie, sie kriegten
sich gar nicht mehr ein vor Lachen. Sie sah aus dem Fenster und schwieg verbittert
bis Binz. Tamara schien sich mit den Jungs köstlich zu amüsieren und ließ sich
zu einer Dose Schultheiß einladen.
Am
Abend blieb Ottilia im Hotelzimmer und versank in ihrer Rolle als Elfe Griselda
aus der Gilde der Traumdeuter im Online-Spiel Elvenar, während sich Tamara an
der Hotelbar mit den Jungs traf. Bald gesellten sich noch zwei Mädels aus
Sachsen-Anhalt dazu. Für Ottilia war es eine endlos erscheinende Woche mit
einsamen Strandspaziergängen und trostlosen Fischbrötchen. In Berlin sahen sich
Ottilia und Tamara nie wieder, vermutlich las Tamara jetzt dem
Schreinergesellen Jonas ihre albernen Gedichte vor.
"Sie (...) schwieg verbittert bis Binz." Allein für diesen genialen Satz, das muss ich neidvoll zugeben, hast du dir den Literatur-Nobelpreis verdient, mindestens aber den Ingeborg-Büchner-Preis!
AntwortenLöschenHab ich alle schon :o)
LöschenUnd den Oscar fürs beste Skript hast du praktisch auch schon in der Tasche, für den skandalträchtigen Autorenfilm "Lebenslang ungebumst - das freudlose Frauenleben der Ottilia Bonetti*"!
Löschen*"Hufnagel" ist leider schon vergeben, der Name taucht bereits in einem ungarischen SciFi-Trickfilm aus den späten 1970ern auf. Wenn du errätst, in welchem, dann wirst du Ehrenmitglied im Recherchenetzwerk Deutschland.
bin ich schon
Löschen....nun ja, mit 3,2 Abi hat man halt eine Wartezeit von 5 1/2 Jahren....also genau so lange wie
AntwortenLöschendas Studium.......hab ich selbst erlebt....man braucht nur Durchhaltevermögen.....
Ich hatte 2,6 und aus mir ist auch nix geworden.
LöschenEs wird erst posthum, aber dann musst Du im Grill Royal kräftig einen ausgeben ;)
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