Gelächter brandet in mächtigen
Wellen aus den offenen Wirtshausfenstern, als ich gegen Abend das Bräustüberl
betrete. Zur Begrüßung wird mir von Toni Stöpsel ein „Alles senkrecht?!“
entgegengeschmettert, was ich mit einem lässigen „Einwandfrei“ souverän quittiere.
Toni Stöpsel ist ziemlich klein
und man kann in seine Nasenlöcher hineinschauen wie bei einem Totenkopf. Er
sitzt mit ein paar anderen jungen Leuten am Tisch neben dem Eingang: Fred
Zaunmelker, Werner Buchwitz, Lothar Schattenmacher und, den Glanz der Runde
vervollkommnend, der dicke Metzgersohn Heinrich Nübel. Die Würfel kreisen, es
geht um Schnäpse und die Jungs tragen alle ein rotes T-Shirt, auf dem
„Elwetritsche“ steht. Dieses pfälzische Fabelwesen hat ihrem Stammtisch seinen
Namen gegeben.
Am Tresen stehen Alfred
Kästrommler, Herbert Stranzl, Ferdinand Zierschüssel und der Schlangenpeter,
der seinen Namen einer Schlange verdankt, die er vor vielen Jahren in seiner
Wohnung gehalten hat. Vor den bewährten Tresenkräften, der Hautevolee der örtlichen
Trinkerschaft, stehen vier Schoppen und neben den Gläsern liegen
Zigarettenschachteln und Feuerzeuge.
„Wie geht’s?“ fragt Alfred. Das
lange schmale rote, um nicht zu sagen backsteinartige Gesicht leuchtet kurz
auf.
„Schlechten Leuten geht es immer
gut“, antworte ich und hieve mich auf den letzten freien Barhocker.
„Hey, Turtle“, begrüßt mich die
Wirtin lachend. „Schoppen?“
„Wie immer.“
„Und sonst?“
„Stabil“.
Seit ich einmal vor Lachen vom
Barhocker gefallen bin und hilflos mit den Gliedmaßen rudernd wie eine
Schildkröte auf dem Boden lag, bis zwei kräftige Burschen mich wieder
aufgerichtet hatten, nennt mich die Wirtin „Turtle“. Ich muss an dieser Stelle
anmerken, dass ich latent adipös bin.
Erika Betz, die Wirtin,
verströmt den gleichen welken Zauber und verblichenen Glanz wie das ganze
Lokal. Ihre Raucherstimme schnarrt knarrend, sie lacht keuchend und ein
lächerlich kleiner Brillant funkelt am rechten Nasenflügel der violett
schillernden Runkelrübe. Als sie mir mein Schoppenglas reicht, sehe ich das rot
geschwollene Fleisch ihrer Spülhände, an denen – tief eingesunken, ja
eingewachsen – billige Ringe blinken.
Das Gebäude ist stilistisch eine
Promenadenmischung aus Fachwerk, Aluminiumtür, Glasbausteinen und einem
unverputzten Anbau aus grauen Hohlblocksteinen. An den Wänden sind nur
Kleiderhaken, eine Dartscheibe und die satanisch glimmende Neonfackel einer Bierwerbung
befestigt. Die ganze Inneneinrichtung strahlt eine geradezu malerische
Trostlosigkeit aus. Vor dem Gasthaus steht ein kümmerliches und zerbrechlich
wirkendes Bäumchen – sinnbildhaft und doch dem zechenden Volk gleichgültig.
Mit athletischem Schwung hebe
ich das Glas an die Lippen und nehme einen großen Schluck. Astrein. Spitze. Es
geht nichts über den ersten Schluck Wein.
Franz Kleinholz kommt von der
Toilette, ein ausgewiesener Experte für Verdauungsprobleme. Er schlingert in
den Gastraum hinein und hebt seinen didaktisch geschulten Zeigefinger, um einen
weiteren Schoppen zu bestellen. Er ist ein Philanthrop reinsten Wassers und
verbringt den Abend fast ausschließlich am Glücksspielautomat im hinteren Teil
des Lokals, wo dieser scham- und würdelose Greis schwurbeligen Stumpfsinn vor
sich hinmurmelt. Sein Lieblingsschimpfwort ist „Nuttenpreller“.
„Alles klar, Franz?“ rufe ich
ihm entgegen, aber er hört wie immer nichts.
Die tiefschwarzen Falten in
seinem Gesicht verbiegen sich, als er mir antwortet: „Was?“
Ich kann einen Blick auf die
absurd gleichförmigen Zähne seines künstlichen Gebisses werfen.
„Schwerhörig und verheiratet –
die perfekte Kombination“, ruft Herbert dazwischen.
Auflodernde Heiterkeit im ganzen
Bräustüberl. Derlei mattschimmernde Thekenweisheiten gibt es hier jeden Abend
dutzendfach zu hören.
Neben dem Tisch mit den jungen
Männern gibt es noch den Tisch mit den Witwen: Maria Schnee, Petra Brunzhorst
und Luise Rothermund. Gelegentlich spielen sie Skat. In einer Ecke läuft der
Fernseher, der FCK spielt, der Lieblingsfußballclub des halben Dorfes,
inzwischen in der zweiten Liga gelandet, um dort gegen traditionslose
Mannschaften wie Sandhausen oder Aue antreten zu müssen.
Ein paar ältere Männer mit
zerknitterten Cordhüten sehen sich das Spiel an und kommentieren es mehr oder
weniger elaboriert mit Stöhnen, Schreien und kurzen Anweisungen an die Spieler.
Dumpfes Murren wechselt mit Momenten geradezu gleißender Hellsichtigkeit („Es
ist immer das gleiche“). Ernst Hundsbacher, Walter Silberblick, Erich
Windfänger und der ehemalige Altkommunist Karl-Heinz Metzinger, ein Mann mit
einem kuppelartigen Glatzkopf und kleinen listigen Augen. Es sind allesamt
Weinbauern, was an den Weizenbiergläsern auf dem Tisch unschwer zu erkennen
ist. Sie haben selbst die Keller voller Wein und würden im Gasthaus nie einen
Schoppen bestellen. Und nach FCK-Toren gibt es grundsätzlich eine Runde
Obstler.
Rein soziologisch setzt sich das
Wirtshausvolk aus Landwirten, Handwerkern, Früh- und Spätrentnern, Witwen und
allerlei Jungvolk zusammen. Ruhelose Hamsterexistenzen der ubiquitären
Angestelltenwelt meiden das Lokal, dessen Qualm- und Fettwolken die feinen
Anzüge ruinieren und dessen Stammgäste zu Lärm und gelegentlichen
Gewaltausbrüchen neigen und überhaupt.
„Wo ist denn Paul?“ frage ich in
die Thekenrunde.
„Der ist schon gegangen“, sagt
Alfred mit einem milden Lächeln.
„Warum ist er denn schon wieder
weg?“
„Wegen nichts“, sagt Herbert,
der mit dem unruhigen Eifer eines Eichhörnchens Erdnüsse in sich hinein frisst.
„Das ist doch keine Antwort“,
sage ich.
„Wegen Gabi“, sagt Ferdinand.
„Wegen Gabi. Verstehe“, sage ich
und wir trinken synchron einen Schluck. Natürlich habe ich nichts verstanden.
„Gabi war hier?“ versuche ich es
wieder.
„Nein“, sagt der Schlangenpeter.
„Die kommt aber noch“, sagt
Alfred.
„Mit Dieter“, sagt Herbert.
„Verstehe“, sage ich und jetzt
habe ich es auch kapiert.
So sprechen sich die Dinge im
Dorf herum.
Und so vergeht die Zeit.
Aus, aus, das Spiel ist aus! Die
Bauern erheben sich und zahlen an der Theke. Allmählich leert sich die
Gaststube. Der ewige Grantler Franz Kleinholz geht, dann der Schlangenpeter.
Auch der Vogelschwarm der jungen Männer verlässt nach den fidelen Witwen mit
den rotgemalten Mündern und den panierten Gesichtern das Bräustüberl.
Schließlich gehe ich auch, der
Vollbluttrinker Alfred Kästrommler ist wie immer der letzte Gast. Finis operis.
Tutto è passate. Fin de Siècle. This is the end my friend, Ultimo und am Arsch
hängt der Hammer.
P.S.: Angesichts der
„abortschüsselartigen Weltverhältnisse“ (Ror Wolf) bleiben mir nur „Parodien,
des Scharfsinns letzte Zuflucht“ (Wladimir Nabokov).
P.P.S.: „Das Bewusstsein, dass
du nichts bist als Fragmente, dass kurze und längere und längste Zeiten nichts
als Fragmente sind … dass die Dauer von Städten und Ländern nichts als
Fragmente sind … und die Erde Fragment …“ (Thomas Bernhard: Amras, S. 78)
P.P.S.: Ursprünglich trug der
Text den Titel „Die Tücken der Eifel“. Nach Abschluss der Niederschrift stellte
ich jedoch fest, dass weder Tücken noch Eifel darin vorkommen.
Blogpost
vom 28.3.2015
"„Schlechten Leuten geht es immer gut“, antworte ich"
AntwortenLöschen... man lernt hier immer wieder was Neues.
ein Freund
Das ist in Rheinhessen und im Hunsrück ein Standardspruch. So wie "De Dolle leeft de Rotz ins Maul."
LöschenWerden hier Geschäfte abgewickelt? Schwarzgebrannter gegen unversteuerten Agrardiesel ?
AntwortenLöschenLeider erfährt der Leser nichts darüber, obwohl es doch naheliegend ist.
PS.:
Aue ist eine Traditionsmannschaft., die 1953 im Walter-Ulbricht-Stadion (Berlin) gegen Dynamo Dresden (!) fast gewonnen hätte. Auch 1985 hätte man gegen Dnepr Dnepropetrowsk fast gewonnen, also verloren.
Diese Geschäfte werden privat abgewickelt - habe ich gehört ;o)
LöschenDie fidelen Witwen verlassen aus Diskretionsgründen vor den jungen Männern das Stübl.
AntwortenLöschenIch meine, da läuft doch noch was ! Was soll dieser Cliffhanger hier im Blog ?
Witwen, die stark geschminkt in eine Dorfkneipe gehen, muss man immer besonders im Auge behalten.
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