Mittwoch, 19. Januar 2022

Der alte Mann und die junge Frau

 

Ein alter Mann und eine junge Frau sitzen allein in einem Zugabteil. Sie schaut auf ihr Handy, er aus dem Fenster. Schließlich schaut sie ihn an und beginnt ein Gespräch.

„Ist es nicht langweilig, die ganze Zeit aus dem Fenster zu sehen?“

„Nein, es ist entspannend.“

„Haben Sie kein Handy?“

„Nur ein altes Nokia. Ich habe kein Smartphone.“

„Sind Sie nie im Internet?“

„Ich bin über sechzig. Mir genügen ARD und ZDF.“

„Wahnsinn.“ Sie schweigt eine Weile. Dann fragt sie: „Sie gendern bestimmt nicht, oder?“

„Doch. Ich habe schon in den achtziger Jahren gegendert. Ich habe in Berlin Soziologie studiert. Das war damals so üblich. Aber ich gendere auf die altmodische Art.“

„Wie denn?“

„Ich sage zum Beispiel ‚Ärztinnen und Ärzte‘. Ihr jungen Leute sagt Ärztinnen mit einer Pause und schreibt es mit einem Sternchen.“

„Das geht schneller.“

„Ja. Und Schnelligkeit ist ja ein Wert an sich. Geduld ist heutzutage eine Schwäche, Ungeduld eine Stärke. Effizienz ist in dieser neoliberalen McKinsey-Welt alles. Irgendwann lasst ihr auch die Pause weg, um Zeit zu sparen.“

„Unsere Sprechweise wird sich durchsetzen.“

„Das habe ich in Ihrem Alter auch gedacht. Aber es gendert nur eine Minderheit, die Mehrheit ignoriert es. Damals wie heute.“

„Das wird sich ändern. Glauben Sie mir.“

„Wenn man alt ist, erkennt man das Muster der Wiederholungen. Aber es ändert sich in Wahrheit nur wenig. Jede neue Regierung ist zum Beispiel eine neue Enttäuschung. Immer das gleiche.“

„Sie klingen, als hätten Sie die Hoffnung aufgegeben.“

„Wer nichts erwartet, kann auch nicht enttäuscht werden. Ich genieße inzwischen die Freuden der Resignation und der Indifferenz.“

„Was meinen Sie damit?“

„Gelassenheit, Gleichgültigkeit. Es ist mir zum Beispiel völlig egal, welche Klamotten gerade in Mode sind. Welche Musik Ihre Generation hört, welche Computerspiele angesagt sind. In meinem Alter wäre es doch peinlich, wenn ich Worte wie cringe benutzen oder eine Schirmmütze tragen würde. Hemmungslose Indifferenz ist das Privileg des Alters.“

„Wenn alle so denken würden, wird sich nie etwas ändern.“

„Genau das meine ich. Nichts ändert sich. Die Lage der Frauen wird sich durch das Gendern nicht verbessern. Rassismus existiert auch, wenn ich die Schwarzen nicht mehr Neger nenne. Wir drehen uns eine Weile im Kreis und dann vergehen wir.“

Edith Piaf - NON, JE NE REGRETTE RIEN - legendado - YouTube

13 Kommentare:

  1. Es sollte schön sein, alt zu werden, voll des Friedens, der aus Erfahrung stammt, und voll der Falten reifer Erfüllung.

    D. H. Lawrence (1885 - 1930) 🙏

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  2. Die Piaf hätte den Dialog sicher unterschrieben 😎

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  3. Starker Text.
    Mit herzlichen Grüßen
    E.Brestaux

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  4. Der Text ist klasse, aber musikalisch finde ich das hier passender:
    Propellerheads featuring Shirley Bessey "A Little Bit Of History Repeating"
    https://www.youtube.com/watch?v=yzLT6_TQmq8

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    1. Irgendwie auch ein grandioses Stück - Shirley Bassey: Yello - The Rhythm Divine

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    2. Von Yello gibt es in der nächsten Zeit drei Stücke. Die zwei Beiden sind einfach sensationell. Die "Claro que si" war meine erste CD von ihnen.

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  5. dein text gefällt mir, danke dafür. und das ich nun auf meine alten tagen dauerd junge menschen mit englischen ausdrücken für etwas bekanntes hören muss, fällt diesen nicht auf. sagt man so, erklären sie. das könnten sie dann auch lernen, wenn sie sternchen schreiben wollen.

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  6. "Oh, ist das ein Bleistift? Schreiben Sie etwa mit der Hand? Auf Papier?"
    "Ja, und ich zeichne auch damit."

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