Donnerstag, 22. April 2021

Ein unvergesslicher Abend

 

Ich hatte Sigismund Roski schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Vermutlich während des Studiums der Germanistik in Heidelberg. Nun stand er plötzlich im Supermarkt vor mir. Immer noch der gleiche Seitenscheitel, der gleiche schwarze Pullover, nur um die Hüften war er etwas fülliger geworden. Kein Wunder, er war schließlich der erstgeborene Sohn von Feinkost-Roski in der Schillerstraße.

„Menschenskind, Andy. Wie lange ist das her? Ich kaufe gerade für eine kleine Party ein. Hast du nicht Lust zu kommen? So gegen acht Uhr? Es gibt ein kaltes Buffet und für Getränke ist auch gesorgt.“

Warum nicht? Feinkost-Roski hatte einen Ruf wie Donnerhall, wenn es um belegte Schnittchen, Buletten, Lachs, italienischen Schinken, russische Eier und Nudelsalat ging. Die besten italienischen und französischen Weine, Champagner, Cognac. Er gab mir seine Adresse und pünktlich um acht klingelte ich an seiner Tür.

Nach und nach trudelten sechs weitere Männer ein und Sigismund drückte jedem von uns eine Flasche Bier in die Hand. Ich war enttäuscht. Grottinger Export. Billige Plörre. Der Kasten für fünf Euro ohne Pfand. Auch ein Buffet war nirgends zu sehen.

Wir setzten uns an den leeren Esstisch und plauderten eine Weile, als ein junger Mann den Vorschlag machte, jemand solle doch eine Geschichte vortragen. Ich fühlte mich geschmeichelt. Schließlich war meine langjährige Arbeit als Schriftsteller in unserer kleinen Stadt nicht verborgen geblieben. Aber ich hatte keinen Text dabei und war unvorbereitet.

Ein anderer Mann rief: „Sigismund. Du bist doch Deutschlehrer. Hast du was da?“

Sigismund lächelte verlegen und stand auf. Kurz darauf kam er mit einem Notizbuch und seiner Lesebrille wieder. Er wolle mit einem Kapitel aus seinem Romanmanuskript beginnen. Und so nahm der Abend seinen Lauf.

Es folgte „Die Ballade vom defekten Heizkörper“ und der Gedichtzyklus „Herbst in Montabaur“. Die harten Holzstühle waren mörderisch. Ich saß wie auf einem Stein. Der Hintern tat mir weh und das Bier war auch alle. Roski las und las und es nahm kein Ende. Das Notizbuch war armdick und ich fürchtete, er würde an diesem Tag nichts auslassen.

Ich stand auf und bewegte mich langsam und geräuschlos über den Teppich in die angrenzende Küche. Im Kühlschrank fand ich nur ein halbes Päckchen Butter, eine fast leere Tube Senf und ein paar schweißüberströmte Käsescheiben in bizarrer Verrenkung. Kein Bier, keine Schnittchen. Nichts.

Ich ging wieder zurück. Um mich herum leere Gesichter ohne Hoffnung. Wie zum Hohn trug Roski gerade „Lob der Fleischwurst“ in fünffüßigen Jamben vor.

Eine weitere Stunde verging. Ich war verzweifelt und setzte alles auf eine Karte. Ich stand auf und trat in den Wohnungsflur.

Nur noch wenige Meter bis zur Tür. Ich betete, dass mich keine knarrende Diele verraten würde.

Endlich. Mit angehaltenem Atem drückte ich lautlos die Klinke.

Abgeschlossen. Der Schlüssel abgezogen.

Hier komme ich nicht mehr raus.

„Krawehl, Krawehl!“   

Basement Jaxx - Where's Your Head At ( Official Video ) Rooty - YouTube

3 Kommentare:

  1. "Es gibt kein Entkommen für Deinesgleichen! Ihr seid verdammt!"

    Filmzitat - NOAH mit Russell Crowe - thx Vincent Coccotti

    AntwortenLöschen
  2. Wär' Dir mit Ulrich Roski nicht passiert, obwohl „Die Ballade vom defekten Heizkörper“ durchaus auch bei ihm dringewesen wäre.

    AntwortenLöschen
  3. Neulich am »Tag des Bieres«23. April 2021 um 12:56

    ... und immer noch keine Erinnerung von Angelnette!

    Ich bin zutiefst enttäuscht ​😢​

    AntwortenLöschen