Dienstag, 8. Dezember 2020

Jungs


Thorsten war der einzige Junge mit einem Bonanza-Rad. Er lebte mit seiner Mutter im Nachbarhaus. Wir waren beide Scheidungskinder. Das machte uns 1975 zu den Outlaws im Block. Er hatte die gleichen hellblonden Haare wie seine Mutter, die einen verwegenen Kurzhaarschnitt hatte und eine Ente fuhr. Seine Babyschuhe baumelten unter dem Rückspiegel, das wäre mir peinlich gewesen. Einmal war ich mit Thorsten und seiner Mutter nach der Schule in einem Einkaufszentrum. Weil ich zum Essen nicht zuhause war, hat mich meine Mutter von der Polizei suchen lassen. Das war noch viel peinlicher.

Ich kann mich noch genau erinnern, wie ich zum ersten Mal sein Fahrrad fahren durfte. Auf der anderen Seite der Rheinstraße, die unser Viertel teilte. Ich fuhr am „blauen Haus“ los, dem Hochhaus, in dem Jan wohnte. Ich fuhr einmal um den ganzen Block, an anderen Hochhäusern vorbei, an unserer Grundschule und am Sportplatz, bis ich wieder bei Thorsten war. Ein irres Gerät! Ich fuhr an ihm vorbei noch eine zweite Runde. So schnell ich konnte, raste ich die Straße entlang, bevor ich es ihm zurückgab.

Damals waren die Hochhäuser noch ganz neu, vielleicht zehn Jahre alt. Hier vegetierte nicht die Unterschicht vor sich hin, hier lebte die Wirtschaftswundergeneration, die Angestellten, Leute, die aufsteigen wollten und ein paar Jahre später mit ihren Familien in neu gebaute Einfamilienhäuser zogen, als unsere Kleinstadt um den nächsten Jahresring erweitert wurde. Hier wuchsen Kinder auf, die später einmal Studienräte und Chemiker, Anwälte und Ärzte werden sollten. Wir träumten davon, Fußballspieler und Astronauten zu werden, und wir glaubten, dass man es schaffen kann.

Neben Thorsten hatte ich drei andere Freunde aus meiner Klasse, mit denen ich mich nachmittags traf. Ein Rudel junger Hunde, das ständig im Viertel unterwegs war, Fußball spielte oder irgendwelche Sachen ausheckte. Am Stadtrand gab es Baustellen, auf denen wir uns herumtrieben, wenn die Arbeiter Feierabend gemacht hatten. Wir bauten Sandburgen, warfen Backsteine in leere Treppenschächte und suchten nach Zeug, das man klauen konnte.

Unser Anführer war Branislaw, den alle nur Bané nannten. Ein Jugoslawe, dessen Eltern ein Restaurant namens „Dalmatiner Stuben“ hatten. Er wohnte im „Tengelmann-Haus“, einem Hochhaus direkt an der Rheinstraße, in dessen Erdgeschoss ein Supermarkt war. Das Restaurant war direkt daneben. Seine Eltern fuhren einen dicken Ford Granada, während andere noch im Kadett oder im Käfer unterwegs waren.

Vor dem „Tengelmann-Haus“ war auch „Urmes“, ein Laden, wo man Spielzeug, Süßigkeiten, Comics, Schulhefte, Stifte, Uhu und Füller kaufen konnte. Es gab Weingummiteile für zwei Pfennig das Stück und Wassereis für zehn Pfennig. Ich kaufte mir schachtelweise Plastiksoldaten, in meinem Kinderzimmer war immer Zweiter Weltkrieg. Der alte Urmes hatte einen Zigarrenstumpen im Mundwinkel, redete nicht viel und sackte unser komplettes Taschengeld ein.

Jan hatte eine Menge Phantasie. Er konnte ein Loch im Boden sehen und uns erzählen, dass er von einem Schatz gehört habe, der in einer Höhle unter dem Loch verborgen sei. Sein Vater war ein brutales Schwein, das ihn wegen jeder Kleinigkeit geschlagen hat. Und dann gab es einen kleinen schüchternen Jungen namens Martin, den alle nur Miniballa nannten. Ich habe nie erfahren, wie er zu diesem Namen gekommen war, aber ich habe auch nicht gefragt. Bis auf Bané arbeiteten alle Eltern in der Fabrik, die direkt an unser Viertel grenzte.

Der erste Ausländer – Bané zählte nicht – war ein Engländer namens Steven. Als er in unserer Klasse vorgestellt wurde, haben wir ihn alle ausgelacht. Wir dachten, sein Name wäre Sieben. Es dauerte eine Weile, bis er unsere Sprache verstand, und wir zogen ihn immer damit auf, dass er keine Umlaute aussprechen konnte. „Hey, Steven, sag mal Düsentriebwerk“ und er sagte „Dusentriebwerk“. Totsicherer Lacher. Als er uns die Geschichte der Titanic erzählte, waren wir begeistert. Er musste jedem von uns ein Bild des untergehenden Schiffs malen. Später waren wir befreundet. Er hatte eine Kiste mit Matchbox-Autos, auf die er „BMV“ geschrieben hatte. Als ich ihn fragte, was es bedeutet, antwortete er, er sei BMW-Fan. Ich habe ihn nicht verbessert.

Unser Block bestand aus vier Sechs-Familienhäusern. Dazwischen waren eine Wiese und ein Spielplatz. Sandkasten, Rutsche, Wippe, Schaukel. Damals war hinter unserem Block die Stadt zu Ende. Als wir einzogen, war noch nicht einmal die Straße geteert. Und am Ende der Straße begann der Wald, in dem uns niemand stören konnte, wenn wir mit unseren Streichhölzern gezündelt haben oder mit unseren Taschenmessern aus Weidenruten gefährliche Waffen machten. Ich höre heute noch das Rauschen in den Bäumen, wenn ich an diese Zeit zurückdenke.

Die Sterne - Was hat dich bloß so ruiniert - Studio Version - YouTube

 

11 Kommentare:

  1. Weil es halt erhalten bleiben soll:
    Roberto de Lapuente macht jetzt Trixie von Storch Konkurrenz!

    Jürgen so am 8. Dezember 2020 1:43:

    Mensch, Roberto, was wünscht Du dir denn jetzt von der Linken? Pressemitteilungen dass Seuchenbekämpfung böse ist? Mitlaufen mit irgendwelchen Querfühlerdemos? Quengeln dass eine Maske die Freiheit einschränkt?

    Darauf Roberto am 8. Dezember 2020 6:03:

    Dass sie den vermeintlichen Schutz des Lebens nicht zu jedem Preis einfordert.

    Hallellullja!

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    1. Freiheit wird als Begriff gerne genutzt, wenn es um Egozentrismus und Hedonismus geht. Kennt man ja auch von "Freie Fahrt für freie Bürger" aus der Porsche/FDP-Fraktion.

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  2. UND, bei mir war´s ganz anders ... weil ich ein Mädchen bin:

    https://www.youtube.com/watch?v=qTrXRN7jBsE *tja*

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  3. Bist du Dir da sicher, dass da ein Wald war? Irgendwo an Ingelheim? Müsste es nicht heißen: "begann das, was wir Wald nannten"?
    Wenn aber doch, dann hat sich Deine erinnerte Gegend stark zu ihrem für Kinder ungeeigneten Nachteil verändert.

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    1. Ich habe in der Unteren Muhl gewohnt, der kurzen Straße zwischen Rheinstraße und Waldstraße. Und wie der Name schon sagt, war an der Waldstraße ein Wald. Allerdings war er so klein, dass er den Namen kaum verdient hat. Auf diesem Gebiet entstanden später die Tennisanlage des TC Boehringer, die Reithalle und die Kegelbahn. Kann aber auch sein, dass ich Dinge durcheinander bringe. Deine Formulierung kommt der Wahrheit sicher näher ;o)

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  4. Wir 60er, bis ca. 68, dann wirkte sich der Pillenknick aus, waren richtig viele.
    Ganze Kinderhorden bevölkerten die Wiesen, Fußballplätze und Straßen.
    Wenn ich mir heute die wenigen noch vorhandenen Bolzplätze so anschaue muß ich sehen, daß vor dem Tor Gras wächst. Früher war im Umkreis von 10 Meter um das Tor Steppe, kein einziger Halm zeigte sich.
    Die Jahrgangsklassen gingen bis G. Also 9a/9b/9c/9d/9e/9f/9g. Und alle Klassen mit über 30 Nasen.
    Und als dann endlich alle 18 waren kamen die Motorräder in`s Spiel. Vor den einschlägigen Kneipen das reinste Motorradtreffen. Ganze Reihen mit Maschinen. Wahnsinn!
    Und der Arbeitsmarkt hat diese Masse spielend aufgesogen, auch so ein Ding.

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    1. Ja, in jedem Haus gab es massenhaft Kinder. Später entdeckten wir, dass es auch massenhaft Kneipen gab. Heute dominieren die Restaurants, weil die geburtenstarken Jahrgänge alt geworden sind.

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    2. Ja, so war das früher. Die Schneeberge waren meterhoch.
      Da wurde im Zug noch geraucht und gesoffen!
      Die Kanzler hiessen Helmut S. oder Helmut K. und nicht "Ändschie" . Ministerpräsidenten und Fussballkapitäne hiessen Franz.
      Auf die Wunden gabs Iodtinktur statt Octenisept für die Weicheier .

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    3. Franz Walter Steinmeier....nein...natürlich Frank.

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