Samstag, 24. Oktober 2015

Andy Bonetti’s Schatzinsel

„Der Gast war ein richtiger alter Seehund, den alle Plagen und Gefahren des Lebens auf dem Meere während der langen großen Seekriege jener Zeit niemals um den Geschmack an leiblichen Genüssen hatten bringen können. Seine Pflichten erfüllte er stets zuverlässig; aber Pflichten sind oft eine trockene Speise, die er darum gern mit starken gebrannten Wassern zu begießen und zu versüßen liebte.“ (Herman Melville: Billy Budd)
Es ist schon viele Jahre her und ich bin inzwischen ein alter Mann. Die Zeit ist gekommen, die Abenteuer niederzuschreiben, die ich als junger Kneipenwirt erlebt habe. Ich hatte damals die Schenke „Zum dreibeinigen Hund“ in der einsamen Bones Bay, einige Kilometer von Bad Nauheim entfernt. Es kamen nur wenige Gäste, zumeist rauflustige Trunkenbolde, aber das Geschäft ernährte seinen Mann.
Ich erinnere mich noch genau an ihn, als wäre es gestern gewesen. Schwerfällig betrat er den Schankraum, mit einer Seemannskiste auf der Schulter. Er trug einen Dreispitz mit einer zerzausten Feder auf dem Kopf und einen schmutzigen dunkelblauen Mantel. Sein Gesicht war zerknittert wie altes Pergament, und er hatte eine hässliche Narbe auf der rechten Wange. Ein alter verwitterter Seebär vom Scheitel bis zur Sohle.
Tock. Bumm.
Tock. Bumm.
So klangen seine Schritte. Er hatte ein Holzbein.
„Nicht viel los hier“, sagte er und blickte in den Raum, der zu dieser frühen Stunde noch vollkommen leer war.
„Hier ist nie viel los“, sagte ich und wischte nervös mit einem Lappen über den Tresen.
„Beim Klabautermann, das ist genau der richtige Ankerplatz für mich“, sagte er und brach in ein grausames, kaltes Lachen aus, das mir einen Schauer den Rücken hinuntertrieb.
Er legte ein großes Goldstück auf den Tresen und sagte: „Ich nehme deine Gästekajüte. Werde hier ‘ne Weile dümpeln.“
Was soll ich sagen? Er blieb wochenlang. Ernährte sich nur von Rum und Fischstäbchen. Tagsüber ging er oft an den Strand und beobachtete mit seinem Fernrohr den Horizont. Billy McOatflake war sein Name.
Eines Tages, als mein Passagier wieder mal den blanken Hans mit seinem Fernrohr absuchte, betrat ein Fremder mein Gasthaus. Er hatte einen dunklen Anzug an, stank aber widerlich nach Fisch und trug an Stelle der linken Hand einen eisernen Haken.
„Wohnt hier ein gewisser McOatflake?“ fragte er mich mit einem verächtlichen Grinsen.
„Der kommt gleich wieder. Wollen Sie was trinken?“ antwortete ich.
„Rum.“
Ich schenkte ihm ein Glas ein, und er verzog sich in den hintersten Winkel der Kneipe.
Als Billy zurückkam, sagte ich ihm, er hätte Besuch.
Er nickte nur stumm, ließ sich einen Rum einschenken und ging an den Tisch des Fremden.
Sie unterhielten sich eine Weile leise, so dass ich nichts verstehen konnte.
Plötzlich wurde es laut, die beiden Männer brüllten und zogen ihre Säbel. Sie kämpften miteinander, der Fremde flüchtete durch die Tür. Billy lief hinter ihm her (tock-bumm, tock-bumm, tock-bumm) und holte zum tödlichen Schlag aus, doch er traf nur das Wirtshausschild, das an einer Stange über dem Eingang hing und einen dreibeinigen Hund zeigte. Noch heute ist die Kerbe auf dem Schild.
Er kam zurück in den Schankraum. Er atmete schwer und starrte mich an. Dann kippte er um und war bewusstlos.
Ich hievte ihn in sein Zimmer und holte den Arzt.
„Schlaganfall“, sagte er, nachdem er Billy untersucht hatte. „Der Mann braucht Ruhe. Und gib ihm bloß keinen Rum.“
Ich blieb den ganzen Nachmittag an seiner Koje sitzen. Billy redete wirres Zeug.
„Gib mir Rum, Andy. Nur einen kleinen Schluck. Ich muss den Anker lichten, sie werden wiederkommen und deine Kneipe entern. Die ganze Mannschaft des alten Flint. Sie wollen die Kiste. Ich bin der einzige, der den Platz kennt.“
Dann starb er. Ich saß eine Weile wie benommen in diesem unheimlich stillen Zimmer. Die Kiste. Sollte ich sie öffnen? Teufel, ich war jung, und ich hatte Ebbe in der Kasse.
Es war inzwischen finstere Nacht. Ich durchsuchte beim Schein einer Kerze seine Jacke nach einem Schlüssel. Nichts. Angewidert durchsuchte ich sein Hemd und seine Hosentasche. Nichts. Ich öffnete sein Hemd und sah den Schlüssel, der an einer Schnur um seinen Hals hing.
Ich öffnete die Kiste. Ein alter Kompass, ein paar Muscheln, eine Autogrammkarte von Käpt’n Iglo, ein Damenunterwäschekatalog. Ein Tagebuch mit dem Titel „Mein Leben als Seeräuber“. Und eine Karte.
Da klopfte es im unteren Stock an die Tür.
Verdammt, die Seeräuber, dachte ich. Ich tu einfach so, als wär ich nicht da.
Das Klopfen wurde lauter. Sie brüllten Billys Namen. Dann hörte ich, wie Holz splitterte. Sie brachen die Tür auf.
Ich öffnete das Fenster der Kombüse, die auf der entgegengesetzten Seite des Gebäudes war, und sprang hinunter in den weichen Heuhaufen.
Ohne mich noch einmal umzuschauen, rannte ich davon, so schnell ich konnte.
Fortsetzung folgt.
Nickelback - How You Remind Me. https://www.youtube.com/watch?v=1cQh1ccqu8M

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen