Montag, 5. Oktober 2015

Ingelheim, Boehringer und der NS-Staat – 1933 bis 1939

Am 30. Januar 1933 wird Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt, am 28. Februar, einen Tag nach dem Reichstagsbrand, wird von Reichspräsident Hindenburg eine „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“ erlassen, mit der die Bürgerrechte der Weimarer Republik außer Kraft gesetzt werden. Am 6. März wird das rheinhessische Konzentrationslager Osthofen bei Worms eröffnet. Die Mainzer Schriftstellerin Anna Seghers setzte diesem Lager und seinen Gefangenen mit ihrem Roman „Das siebte Kreuz“ ein literarisches Denkmal.
Am 1. Mai 1933 tritt mit Julius Liebrecht das erste Mitglied der Unternehmensleitung von Boehringer Ingelheim in die NSDAP ein, alle anderen Manager werden als Mitglied des „Stahlhelm“ 1933 automatisch in die SA-Reserve überführt. Ernst und Albrecht Boehringer werden nach Aufhebung der Aufnahmesperre 1937 Mitglied der NSDAP. 1934 wird das Unternehmen „förderndes Mitglied der SS“ mit einer monatlichen Fördersumme von 25 Reichsmark. Albert Boehringer wird Mitglied der Deutschen Arbeitsfront (DAF) und unterstützt sowohl die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt wie den Reichsluftschutzbund.
„In der siebten Februarausgabe des antisemitischen Hetzblatts ‚Der Stürmer‘ erschien 1935 ein Artikel unter der Überschrift ‚Was eine gefundene Rechnung verrät!‘ Darin wurde das noch recht junge NSDAP-Parteimitglied, zugleich Truppführer der SA, Julius Liebrecht angegriffen, weil seine Frau bei dem jüdischen Metzger Max Jesselsohn in Nieder-Ingelheim eingekauft hatte.“ Ein Denunziant von der SS hatte einen Lieferzettel über „Kalbsfricasee und Bratwürste“ an den „Stürmer“ weitergeleitet. Liebrecht muss vor das Parteigericht in Bingen und bekommt einen Verweis. Spätestens nach diesem Vorfall war die Unternehmensleitung dem NS-Staat treu ergeben.
Ganz anders verläuft das Leben von Robert Boehringer. Der Vetter, der das Unternehmen während des Ersten Weltkriegs kurzzeitig geleitet hat, als seine Verwandten beim Militär sind, und der seit 1921 in der Schweiz zunächst in der pharmazeutischen Industrie und später beim Internationalen Roten Kreuz arbeitet, betritt ab 1933 nicht mehr deutschen Boden. Er ist mit einer Jüdin verheiratet und unterstützt in Frankreich internierte Juden und KZ-Insassen in Deutschland mit Medizin, Nahrung und Kleidung. Auch an der Hilfsaktion für das hungernde Griechenland 1943 beteiligt er sich. Er organisiert Hilfsleistungen im Umfang von mehreren hundert Millionen Schweizer Franken. Als Nachlassverwalter des bei Bingen geborenen Dichters Stefan George war er mit anderen Anhängern des Dichters aus dem „George-Kreis“ befreundet, beispielsweise mit den Widerstandskämpfern Claus und Berthold Schenk Graf von Stauffenberg.
Bei der Betriebsratswahl bei Boehringer Ingelheim im April 1933 stimmen 145 Mitarbeiter für die Gewerkschaftsliste, 165 für die von den Nationalsozialisten vorgelegte Liste. Hakenkreuzfahnen werden bei Betriebsfesten aufgezogen, 1935 gibt es für die Belegschaft einen „Kameradschaftsabend“ mit Marschmusik und Fahneneinzug. Die Unternehmensleitung stellt für NS-Veranstaltungen Transportfahrzeuge und die Werkskapelle zur Verfügung. Grußbotschaften des Managements in der Werkszeitung werden ab 1936 mit „Heil Hitler“ unterzeichnet. „Betriebsjugendwalter“ und „Betriebsvolksbildungswarte“ sorgen für die politische Indoktrination der Beschäftigten. Bei den Feiern zum 1. Mai werden zunehmend Parteiuniformen und militärische Uniformen getragen. 1939 bekommt das Unternehmen das „Gaudiplom für herausragende wirtschaftliche Leistungen“, Boehringer Ingelheim ist Teil der „nationalsozialistischen Volksgemeinschaft“.
Der Umsatz des Unternehmens steigt von 6,9 Millionen Reichsmark auf 20 Millionen Reichsmark 1939. Die Ausweitung der Produktion wird dabei durch die Organisation der Industrie in Syndikaten und Kartellen erschwert, die den einzelnen Unternehmen feste Produktionsmengen und zum Teil feste Preise vorschreiben. Boehringer ist beispielsweise Mitglied der Opiumkonvention (das Unternehmen ist Mitte der dreißiger Jahre der größte Opiumimporteur Deutschlands), der Kokain-Konvention und des Weinsäuresyndikats. Die Arbeitszeit, die in der Weltwirtschaftskrise teilweise auf 36 Wochenstunden herabgesetzt worden ist, um Entlassungen zu vermeiden, steigt ab 1936 wieder auf die damals üblichen 48 Stunden. Der Anteil des Exportgeschäfts sinkt zwischen 1931 und 1941 von 64 Prozent auf 14 Prozent. Die Geschäfte im NS-Staat laufen glänzend. 1938 wird die Stadt Ingelheim am Rhein aus den Dorfgemeinden Frei-Weinheim, Nieder-Ingelheim und Ober-Ingelheim gebildet.
Im Schatten dieser Entwicklung beginnt die Tragödie der jüdischen Bevölkerung. „Rheinhessen zählte bei der Gründung des Deutschen Kaiserreiches 1871 zu den Schwerpunktregionen jüdischen Lebens in Deutschland. Während im Reich 1,2 Prozent der Mitbürger jüdischen Glaubens waren, fühlten sich in Rheinhessen zu diesem Zeitpunkt 3,6 Prozent der Bevölkerung dem jüdischen Glauben verbunden.“ Seit der „Franzosenzeit“ Anfang des 19. Jahrhunderts sind die Juden in der bürgerlichen Gesellschaft integriert und beteiligen sich an politischen Parteien und Vereinen, später auch in den Kriegen und im Kampf gegen die französische Besatzung. „Wohl auch deshalb fand der Antisemitismus bis weit in die 1920er-Jahre hinein in Rheinhessen keine nennenswerte Resonanz.“ Die jüdische Bevölkerung in Nieder- und Oberingelheim sank von 142 im Jahr 1900 (unter zwei Prozent der Gesamtbevölkerung) auf 115 im Jahr 1933. Zu Beginn des Holocaust lebten noch 17 Juden in Ingelheim. 1942 erlischt das jüdische Leben in der Stadt, die Mörder haben ihr Ziel erreicht: Ingelheim ist „judenfrei“.
P.S.: Alle Zitate aus der informativen und lesenswerten Studie „Boehringer Ingelheim im Nationalsozialismus“ von Michael Kißener, Professor für Zeitgeschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
Die Ärzte – Eva Braun. https://www.youtube.com/watch?v=egaUzATKXsQ

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