Donnerstag, 6. Mai 2021

Das Haus in der Steingasse

 

Die Steingasse gehört zum ältesten Teil der Stadt. Die schmalen Fachwerkhäuser sind aus dem 17. Jahrhundert und haben fast durchgehend drei Stockwerke. Das Gewirr der kleinen Gassen ist mit Kopfstein gepflastert und für den Autoverkehr gesperrt. Ich wollte nur zwei oder drei Tage bleiben. Ich hatte mich im Gasthaus zum schwarzen Bären eingemietet, das für sein helles Bier und die hervorragende Ochsenzunge berühmt war.

Als ich durch die Gassen schlenderte, satt und zufrieden nach einem opulenten Mittagessen, das aus Rehterrine, eben jener Ochsenzunge und Kaiserschmarrn nebst drei Humpen Bier bestanden hatte, sah ich, dass eines der Häuser in der Steingasse zu vermieten war. Ich wählte die angegebene Telefonnummer und eine Stunde später stand ich mit dem Vermieter im Haus Steingasse 7. Da es Sommer war, würde ich die Kohleöfen nicht heizen müssen. Küche und Bad im Erdgeschoss waren schlicht, aber sauber. Dazu ein Raum zur Gasse hin, der mehr einer Rumpelkammer glich.

Wir stiegen die Treppe in den ersten Stock hinauf. Hier gab es ein helles Wohnzimmer, ausgestattet mit schweren Ledersesseln, einer Schrankwand voller abgegriffener Schmöker aus dem zwanzigsten Jahrhundert und einem Schreibtisch am Fenster. Immerhin gab es WLAN. Es gefiel mir sofort. Hier würde ich in den nächsten zwei Monaten an meinem neuen Buch arbeiten. Auf demselben Stockwerk gab es noch ein großes Schlafzimmer mit Doppelbett. Der Raum war recht düster, da zwischen dem Fenster und der Rückwand des angrenzenden Hauses kaum zwei Meter Abstand waren.

Die Treppe zum Dachgeschoss war schmal und steil, fast wie eine Leiter. Hier standen nur ein breites Sofa und ein flacher Holztisch. Den Blick über die Stadt hätten andere vielleicht als „malerisch“ bezeichnet. Ich schrieb Sachbücher. Ich beschloss, diesen Raum für gemütliche Nachmittage mit Lektüre und gelegentlichen Nickerchen zu nutzen. Ich hatte vor, über die chinesische Tang-Dynastie zu schreiben, und hatte gerade erst begonnen, mich in das Thema einzulesen. Über die Miete waren der Vermieter und ich schnell einig. Am übernächsten Tag konnte ich einziehen.

Als ich dem Wirt vom schwarzen Bären erklärte, dass ich bald das Quartier wechseln, seinen Fässern und seiner Küche aber die Treue halten wollte, erzählte er mir im Tonfall eines Verschwörers, das Nachbarhaus in der Steingasse, die Nummer 6, stünde seit Jahrzehnten leer. Wilde Gerüchte rankten sich um das Gebäude. Ein Mann habe dort seine gesamte Familie erschlagen und sich dann im Dachgeschoss erhängt. Nach Einbruch der Dunkelheit würde es im Haus spuken und gelegentlich hätte schon so mancher Zecher, der in tiefer Nacht auf dem Heimweg war, ein Licht im obersten Fenster brennen sehen. Die Fassade des Hauses war tatsächlich mit einigen wunderlichen Figuren ausgestattet: gehörnte Kreaturen, verzerrte Fratzen und Zentauren.

Während der ersten Tage in der Steingasse befasste ich mich mit der Strukturierung des geplanten Buchs. Ich bestellte mir online einige Fachbücher, auf die ich allerdings warten musste. Also beschloss ich, mir die Rumpelkammer im Erdgeschoss etwas genauer anzusehen. Tische und Stühle waren übereinandergestapelt, in einem Schrank fand ich zerschlissene Kleider aus grauer Vorzeit. Vielleicht sollte ich hier etwas aufräumen. Am meisten störte mich der ausgetretene, fadenscheinige Teppich, der völlig verstaubt war und in der Mitte des Zimmers lag. Ich begann, ihn zusammenzurollen, und entdeckte eine Falltür im Boden.

Das Haus hatte also einen Keller. Vielleicht würde ich ein paar Flaschen Wein oder Obstler dort unten finden? Die Falltür ließ sich nur schwer und mit einem lauten Knarren öffnen. Ich stieg die Holztreppe hinunter und fand einen Lichtschalter. Der Keller war niedrig und voller Spinnweben. Leere Fässer, ein Stapel Brennholz, Kohlen und ein Regal mit Einmachgläsern. Ich war enttäuscht. Etwas geheimnisvoller hätte meine Entdeckung schon sein können. Ich wollte schon wieder gehen, da sah ich am anderen Ende des Kellers eine Tür.

Im Schloss steckte ein Schlüssel. Ich überlegte nicht lange und drehte ihn. Auf der anderen Seite war ein weiterer Kellerraum. Auch er voller wertlosem Gerümpel. Licht kam nur von einem kleinen Fenster. Ich ging darauf zu und war überrascht, eine weitere Tür zu finden. Sie ließ sich öffnen und ich stand in einem Garten. Laut Stadtplan gab es in der gesamten Altstadt keine Gärten. Die hohen Mauern waren ganz mit Efeu überwuchert, in der Mitte stand eine alte Linde und das Gras war meterhoch. Ich schaute mich um.

Das war nicht die Rückwand meines Hauses. Dieses Haus hatte auf jedem Stockwerk zwei Fenster zum Garten. Das musste das Haus Nummer 6 sein, das seit langer Zeit unbewohnt war. Drei Stufen führten zu einer Tür. Ich drückte die Klinke. Auch sie war unverschlossen. Ich betrat das Haus. Das Erdgeschoss war völlig leer. Ich stieg die Treppe zum ersten Stock hinauf. Hier fand ich ein paar altertümliche Möbel. Stille. Ich schaute aus dem Fenster auf die Straße und bemerkte, dass die Sonne bereits untergegangen war.

Dann stieg ich in den zweiten Stock. Hinter der ersten Tür, die ich öffnete, war das Schlafzimmer. Ich öffnete die nächste Tür. Die Bibliothek. Am Fenster stand ein Sessel mit einer hohen Lehne. Ich zögerte einen Augenblick. Es war schon recht dunkel und ich musste den Weg zurück in mein Haus finden. Schließlich ging ich doch auf den Sessel zu. Und dann sah ich ihn.

Fortsetzung folgt

7 Kommentare:

  1. ... Meister EDER ;)
    Wo ist jetzt Pumuckl ... ?

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  2. Sehr schön und auch schön leicht gruselig. :-)

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  3. "Hier spricht Dr. Mabuse, ich nehme auch Kassenpatienten, Huahahaha!"

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  4. Und dann sah ich ihn ...6. Mai 2021 um 19:24

    ... den Gerichtsvollzieher, der schon Jahre hinter mir her war und auf der Stelle eine Taschenpfändung vollzog. In meinem ehemals prallgefüllten Geldsäckel waren noch ...

    Fortsetzung folgt

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  5. Mit solchen Sachen hat auch H. G. Wells sich anfangs über Wasser gehalten. Passt auf, Leute, derart Sanftes kommt wieder in Mode, je mehr da draußen alles freidreht. Gruß von Götz

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  6. Edgar Wallace meets Agatha Christie in Schweppenhausen.
    Sex mit Miss Marple würde die Geschichte rund machen.

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