Samstag, 6. Februar 2021

Ihr seid nur das Volk


In Thomas Manns Roman „Doktor Faustus“ berichtet der Ich-Erzähler von einem Verhältnis zu einem „Mädchen aus dem Volke“, das er als Student kennengelernt hatte, und alsbald wieder beendet, „da der Bildungstiefstand des Dinges mich ennuyierte“.  

Wie unvermittelt und geradezu naiv die Klassengesellschaft des Kaiserreichs geschildert wird. „Das Volk“, das sind offenbar die anderen, die man auch als „einfache Leute“ oder als „gemeines Volk“ bezeichnet. Davon grenzten sich zunächst Adel und Klerus ab, später das Besitzbürgertum und noch ein wenig später das Bildungsbürgertum wie in diesem Fall (der Ich-Erzähler ist der Sohn eines Apothekers).

Man zählt sich selbst zu gewissen „Kreisen“, zu denen Menschen „aus dem Volk“ keinen Zutritt haben. Der Fabrikbesitzer mag eine Affäre mit der Fabrikarbeiterin haben, der Arzt mit dem Dienstmädchen – aber man heiratet diese Frau nicht. Es war eine Ehe „unter ihrem Stand“. Diesen Frauen fehlt es an Bildung, Umgangsformen und Beziehungen. Falls es doch zu einer Heirat kommt, die nicht standesgemäß ist, wird die betreffende Frau ihr Leben lang argwöhnisch und misstrauisch beäugt.

George Bernhard Shaw thematisiert diese Klassenunterschiede in seinem Theaterstück „Pygmalion“, das 1913 uraufgeführt wurde und das Thomas Mann sicher gekannt hat, als er Jahrzehnte später den „Doktor Faustus“ schrieb. In diesem Stück wettet ein Sprachwissenschaftler, Professor Higgins, mit einem Freund, er könne ein Mädchen „aus einfachen Verhältnissen“ in die feine Londoner Gesellschaft einführen, wenn er ihr ausreichend Sprachunterricht gibt. Das Blumenmädchen Eliza Doolittle wird ausgewählt und in den folgenden Wochen wie ein Affe dressiert. Sie verliebt sich in den Professor, der jedoch aufgrund seiner sozialen Stellung unerreichbar für sie bleibt. Bei der Generalprobe, einer Party, blamiert sie ihn zwar mit einem kurzen Rückfall in ihre Vulgärsprache und ihren Akzent, insgesamt ist der Versuch jedoch geglückt und die Upper Class akzeptiert Eliza.

„Das Volk“ verrichtet seinen Dienst, aber es gehört nicht zur Gesellschaft. Die moderne Sprache verdeckt diese Klassenverhältnisse, sie verschleiert das Herrschaftsgefüge. Wir haben vergessen, wie es wirklich ist und wie es immer war.

P.S.: Mit der Formulierung „die jüdischen Verlegersfrauen und Bankiersdamen blickten mit der tiefgefühlten Bewunderung ihrer Rasse für deutsches Herrenblut und lange Beine zu ihm auf“ würde Thomas Mann heutzutage auf Twitter einen Shitstorm auslösen.

P.P.S.: Sehr sympathisch finde ich in diesem Alterswerk Manns seinen Hang zu albernen Namen, dem ich ja auch seit vielen Jahren fröne und dem ich hemmungslos nachgehen kann, seit mich kein Lektorat mehr stört. Vor zehn Jahren wurde ich noch gezwungen, eine Hauptperson von Maritima Eternity Wurstwasser in Julia Sommer umzubenennen. Bei Mann gibt es eine Familie Schweigestill, der beste Freund der Hauptfigur heißt Schildknapp und mein Liebling – ein Seitenhieb auf den unsäglichen Katholizismus – ist Monsignore Hinterpförtner.

Gioachino Rossini : The Barber Of Seville - Overture - YouTube

8 Kommentare:

  1. Geht schon in der Kindheit los: Spiel nicht mit den Schmuddelkindern...

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  2. Auf dem Standesamt.

    Mann: "Ich möchte meinen Namen ändern lassen."

    Beamter: "Das geht aber nicht so einfach."

    Mann: "Warum denn nicht?"

    Beamter: "Ja da würde ja jeder kommen ..."

    Mann: "Aber ich muss unbedingt meinen Namen ändern lassen."

    Beamter: "Also gut, bevor wir uns hier so weiter streiten, sagen Sie mir doch erstmal, wie sie heißen."

    Mann: "Fritz Ficker."

    Beamter: "Ach Gott, natürlich, selbstverständlich, Entschuldigung. Klar werden wir diesen Namen ändern!"

    Mann: "Danke!"

    Beamter: "Wie wollen Sie denn in Zukunft heißen, mein Herr?"

    Mann: "Paul Ficker."

    *hehe*

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  3. Auf dem Standesamt:
    "Ich möchte meinen Namen ändern lassen."

    "Wie heißen Sie denn?"

    "Brentz!"

    "Ist doch ein ganz normaler Name!"

    "Schon, aber immer, wenn ich mich am Telefon mit "hier Brentz" melde, kommt die Feuerwehr."

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  4. Und unsere Welt funktioniert so wie sie funktioniert, weil so viele gern zu den "gewissen Kreisen" gehören würden.

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    1. ... und weil sie durch ihr Verhalten die Sympathie dieser Kreise gewinnen möchten.

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  5. Es ist ganz natürlich.
    Alles verifiziert durch Beobachtungen in meiner Blase.
    Kinder von Selbständigen werden selber selbständig, Handwerker, Apotheker, Zahnwälte.
    Arbeiterkinder werden auch oft "Arbeiter". Das gibt es ja so nicht mehr, also Facharbeiter, manchmal durch einen Meistertitel geadelt.
    Beamte dann in der 4ten Generation oder Angestellte.
    Unternehmer dito.
    Und die Eliten bleiben dann natürlich auch unter sich.
    Die Ausnahme bestätigt die Regel, kenne einen Millionär aus einem Alkoholiker, Arbeiterhaushalt. Einer von Millionen.
    Alles verdammt normal.

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  6. So viel ich weiß, hat Goethe es sich seinerzeit herausgenommen, eine Fabrikarbeiterin zur Frau zu nehmen. Siebzehn Jahre ließ er sich Zeit, ehe die Verbindung endlich doch durch kirchliche Heirat legitimiert wurde. Die bürgerliche Gesellschaft von Weimar konnte das nur schwer ertragen, so dass der Herr Geheimrat mit seiner Frau nur am Rande der Stadt wohnen durfte. Was den Dr. Faustus angeht, denke ich nicht, dass die bürgerliche Moral hier allzu naiv geschildert wird. Thomas Mann hat mit Serenus Zeitblom (noch so ein Name!) einen Ich-Erzähler gewählt, der ganz bewusst bieder und gesellschaftskonform angelegt ist - im Gegensatz zum Künstler Leverkühn. Der Kontrast zwischen Bürger und Künstler ist bei Mann ja immer das Thema schlechthin gewesen. Wir haben heute andere Sorgen.

    P.S.: Autokorrektur wollte aus Serenus Zeitblom Serenus Zeitbombe machen - auch kein schlechter Name.

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