Freitag, 8. Juni 2018
Das letzte Geheimnis der DDR
Sie galt als das größte Geheimnis von Honecker und Mielke: die „Gesellschaft für lyrische Rätsel“, kurz GLR. Eigentlich stand die Abkürzung für „Geheimes Labor für Raumfahrtsimulation“. Hier sollte die Teilnahme von Kosmonauten der DDR an Weltraummissionen der UdSSR vorgetäuscht werden, falls den Russen mal das Geld ausgehen sollte oder etwas schief gelaufen wäre.
Auf dem Gelände eines ehemaligen Braunkohlereviers in der Nähe von Cottbus war das eingezäunte Gebiet der GLR. In einem Gebäude war das Innere einer Raumstation nachgebaut. Kamera und Tonband konnten bei Bedarf sofort von den Mitarbeitern der zuständigen Stasi-Abteilung, Code-Name „Peterchens Mondfahrt“, eingeschaltet werden. Einer der drei Pseudokosmonauten, die im Drei-Schicht-Betrieb rund um die Uhr arbeiteten, saß immer in voller Montur, d.h. im Raumanzug, den Helm griffbereit, in der Kopie einer Sojus-Kapsel vor dem Steuerpult.
Im zweiten Gebäude lebten Dieter, Olaf und Peter zusammen mit dem vierten GLR-Mitarbeiter. Erich musste keinen Schichtdienst machen. Er war ein lakonischer Phlegmatiker, der sich verpflichtet hatte, im Falle des Todes eines DDR-Kosmonauten die Leiche zu spielen. Wäre ein Kosmonaut im Weltraum verschollen oder seine Leiche nach dem Absturz einer Raumfähre unauffindbar gewesen, hätte man seinen toten Körper bei einer festlichen Bestattung als Held des Sozialismus gewürdigt. Er musste immer eine Zyankalikapsel bei sich tragen. Arbeiten musste er nie. Ihre Bilder waren regelmäßig im Neuen Deutschland und der Aktuellen Kamera zu sehen, so dass die Bevölkerung an den Anblick ihrer Allerweltsgesichter gewöhnt war.
Eine Woche nach dem Rücktritt von Honecker beschlossen die vier Jungs, mit ihrem Geländewagen das Gittertor der Umzäunung zu durchbrechen. Es war eine abenteuerliche Fahrt, die Stasi-Bewacher verfolgten sie mit zwei Wartburg. Es gelang ihnen, die Stasi mit einer kleinen Querfeldeinvorstellung abzuhängen. In einer bedeutungslosen Seitenstraße von Cottbus besuchten sie einen Freund von Olaf, der sie mit Zivilklamotten versorgte und ihnen seinen Trabi im Tausch gegen den Jeep gab. Beim Abschied sagten sie ihm, er müsse den Wohnort und den Namen wechseln, weil die Stasi vermutlich bald bei ihm wäre. Das fand der Freund nicht so gut.
Aber schon quietschten die Reifen und es ging weiter nach Ost-Berlin. Dort tauchten sie in der Menschenmenge unter, die täglich nach West-Berlin pilgerte, um sich McDonald’s und Deichmann anzuschauen. Sie gerieten in Kreuzberg in eine Kiffer-WG und nahmen zum ersten Mal in ihrem Leben Drogen. Ein kleiner brauner Erdklumpen auf einem alten Holztisch, hart und seltsam duftend, wenn man ihn anzündete, sollte ihr Leben verändern. Der Osten brauchte nicht nur Opel und Marlboro – er brauchte Dope in rauen Mengen. Dieter, Olaf, Peter und Erich hatten endlich ihre eigentliche Bestimmung gefunden und dienen auf diese Weise bis heute der Gesellschaft.