Freitag, 23. Juni 2017

V

Auf Anraten meines Therapeuten sollte ich mich Situationen aussetzen, denen ich normalerweise aus dem Weg gehe. Außerdem sollte ich den Kontakt mit anderen Menschen suchen, da ich als alleinstehender Schriftsteller ein sehr einsames Leben führe und einer quasi autistischen Tätigkeit nachgehe. Also hatte ich mich entschlossen, ein vierwöchiges Praktikum bei Amadeus Vogelkopf zu absolvieren. Arbeit! Fremde Menschen!!
Herr Vogelkopf war ein netter älterer Herr, der seit zwanzig Jahren als Geschäftsführer und einziger Mitarbeiter von „Andy Quariat“ in der Winterfeldstraße in Berlin-Schöneberg seinen Lebensunterhalt bestritt. Ich hielt es für eine gute Idee, der Welt der Bücher weiterhin verbunden zu sein und gleichzeitig Material für meine Veröffentlichungen zu sammeln. V, wie ich ihn insgeheim liebevoll nannte, enttäuschte mich nicht. Ich kannte ihn von gelegentlichen Besuchen seines Antiquariats.
Während der langen Stunden, in denen niemand die Geschäftsräume betrat, die bis unter die Decke mit tausenden von Büchern angefüllt waren, die nach der unergründlichen Ordnung ihres Besitzers aneinandergereiht auf weiß gestrichenen Regalbrettern standen, erzählte mir V aus seinem Berufsleben. Er hatte Myriaden von Studenten überstanden, die ewig suchten und nichts kauften. Penner, die sich aufwärmten, und Rentnerinnen, die ihn aus Langeweile in ein Gespräch verwickelten, ohne dass ihn ein zweiter Kunde retten konnte. Leute, die feilschten. Leute, die ein gelesenes Buch gegen ein neues tauschen wollten. Leute, die versuchten, ihm die Konsalik-Sammlung ihrer Oma anzudrehen.
Niemand käme je auf die Idee, ein Antiquariat zu eröffnen, um reich zu werden. Eigentlich habe ich mich immer gefragt, wovon Antiquare überhaupt leben. Alles in der ersten Woche meines Praktikums hat mich in dieser Einstellung bestätigt. Diese Beschäftigung ist auf eine so unkomische Art traurig, isn’t it? Bis Martin Aufsesser das Geschäft betrat.
Es hatte geregnet und es dauerte eine ganze Weile, bis der Mann auf seine seltsam unbeholfene und umständliche Art den Regenschirm geschlossen hatte, seine Brille mit einem Tuch getrocknet und wieder aufgesetzt hatte, um an den Verkaufstresen zu treten, hinter dem V und ich die Szene beobachtet hatten.
„Guten Tag“, sagte er. „Darf ich erfahren, wer von Ihnen Herr Vogelkopf ist?“
„Das bin ich“, sagte V. „Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Es geht um einen Nachlass. Mein Vater ist gestorben. Professor Aufsesser. Vielleicht haben Sie den Namen schon einmal gehört?“
„Germanistik. Freie Universität. Ich habe eine Vorlesung von ihm besucht.“
Auch ich kannte Aufsesser. Er schrieb nach seiner Emeritierung vor zwanzig Jahren regelmäßig Rezensionen für den „Tagesspiegel“.
„Mein Vater hat eine umfangreiche Bibliothek hinterlassen. Meine Mutter möchte gerne in eine kleinere Wohnung in der Innenstadt ziehen, wir werden das Haus verkaufen und seine Bibliothek können wir weder bei mir noch bei meiner Mutter unterbringen.“
„Um wie viele Bücher handelt es sich denn?“
„Es dürften über sechstausend sein.“
V blickte Aufsesser ungerührt an, während ich leise durch die Zähne pfiff.
„An welche Summe hatten Sie gedacht.“
„Wir wären mit zehntausend Euro zufrieden. Gerade die Fachliteratur aus seiner Zeit als Professor ist vermutlich selbst für einen erfahrenen Antiquar wie Sie nicht zu verkaufen. Aber die Romane werden sicher ihre Leser finden.“
„Gut, Herr Aufsesser. Kann ich mir die Bücher am Samstagnachmittag nach Geschäftsschluss anschauen?“
„Sehr gerne. Ich gebe Ihnen die Adresse.“
Eine Villa in Dahlem. Ich hatte es nicht anders erwartet.
So fing es an.
Fortsetzung folgt
Sergio Mendes feat. Black Eyed Peas - Mas Que Nada. https://www.youtube.com/watch?v=Tfa6fRjPlUE

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