Mittwoch, 14. Juni 2017

Retro-Look ins Zeitschriftenregal

„Schreib alles auf; gerade wenn sich etwas zuträgt, glaubt man, es nie zu vergessen, weil die Gegenwart glänzt; aber die nächste tut‘s auch, und dann vergisst man.“ (Jean Paul)
Es geht doch nichts über leichte Lektüre an heißen Nachmittagen, wenn ich auf der Terrasse sitze, von Ferne ein Rasenmäherbrummeln heranweht und rabenschwarze Sechziger-Jahre-Musik aus den Lautsprechern quillt. Erich Maria Remarque muss wieder einmal dem Besten aus Reader’s Digest weichen.
Mai 1986. Ich bin 19 Jahre alt und mache Zivildienst. Helmut Schmidt erklärt in einem Vorwort: „Wir leben in einer Welt gegenseitiger Abhängigkeit. Kein Land ist heutzutage in der Lage, seine politischen und wirtschaftlichen Probleme allein zu lösen.“ Könnten Schulz oder Steinmeier heute noch als Satzbaustein verwenden.
Auf Seite 18 erfahre ich: „Die Bundesrepublik Deutschland ist eine der führenden Videonationen der Erde.“ Jeder fünfte Haushalt besitzt einen Videorekorder, so wie in den USA. Es gibt 3500 Videotheken und selbst Buchhandlungen haben Kassetten in ihr Programm aufgenommen. 1987 soll jeder dritte Haushalt Video haben – der Fortschritt ist nicht aufzuhalten.
In der Reportage „Bonn – eine Hauptstadt macht Karriere“ geht es um den Aufstieg der Provinzstadt am Rhein. Ältere Leser erinnern sich womöglich noch an das Palais Schaumburg (bis 1976 Kanzleramt), den Langen Eugen (Abgeordnetenhochhaus) und die Villa Hammerschmidt, Dienstsitz des Bundespräsidenten. 70.000 Politiker, Diplomaten, Lobbyisten und Journalisten bevölkern das „Raumschiff Bonn“, viele von ihnen hätten noch nie die Innenstadt oder Beethovens Geburtshaus gesehen.
Ein anderer Artikel befasst sich mit altehrwürdigen Kaffeehäusern in Italien, die man eigentlich gerne sofort besuchen möchte. Das Caffè Tommaseo in Triest, in dem schon Stendhal, James Joyce und Italo Svevo saßen und schrieben. Oder das Caffè Florian auf dem Markusplatz in Venedig, 1720 eröffnet. Giacomo Casanova, Goethe, Marcel Proust, Thomas Mann, Salvador Dali und Ernest Hemingway verbrachten in den edlen Salons ihre Zeit, bevor die Generation Lonely Planet einzog. Natürlich darf das Caffè Greco in Rom nicht fehlen, wo Schopenhauer grübelte und Nikolai Gogol letzte Hand an seine „toten Seelen“ legte.
Es geht weiter mit Kindern und ihren Vorstellungen über das Jahr 2000. Da soll es Roboter geben, die einem morgens die Zähne putzen und die Hosen anziehen. Oder eine Hausaufgabenmaschine. Sebastian (11) will als König Freikarten fürs Kino und Süßigkeiten verteilen, Schule und Zahnärzte werden abgeschafft. Ilka (12) schreibt lapidar: „Ich will Ballerina werden, und wenn mein Mann das Essen fertig hat, komme ich nach Hause.“ Das ist jedenfalls amüsanter als die Visionen auf der EXPO 1986 in Vancouver, wo im deutschen Pavillon eine Zukunftstechnologie namens „Transrapid“ vorgestellt wurde …
Zwischendurch erfahre ich, dass Niesen für Waliser Unglück bedeutet, während es in „östlichen Ländern“ heißt, Niesen vor dem Frühstück bedeute ein Geschenk noch vor dem Wochenende. Japaner glauben, jemand sagt gerade etwas Gutes über sie, wenn sie niesen, für Juden ist das Niesen während des Gebets eine von Gott gesandte Wohltat.
Dann wird es ernst: „Zwischen Mullahs und Moderne – die Araber“. Der schnelle Wohlstand durch die Ölmilliarden hätte die Menschen materialistisch gemacht, sie hätten durch die Technik und die Waren des Westens ihre Tradition und ihre Kultur verloren, analysiert ein Autor der Los Angeles Times. „Viele wurden fast über Nacht zu Millionären, und die Künstler, die das sahen, fragten sich, warum sie ein Buch schreiben sollten, wo sie als Vertreter oder Geschäftsführer ganz andere Summen verdienen konnten“, sagt Bahrains Erziehungsminister Ali Fakhro. Und weil die Araber ihre Ziele – einheitliche arabische Nation, Befreiung Pälastinas und Zerschlagung des Zionismus – nicht erreichten, „machen nur noch die religiösen Fanatiker Schlagzeilen“. Da war Mister David Lamb seiner Zeit weit voraus.
Der letzte Artikel trägt den Titel „Wohin steuert Jugoslawien?“ Heute, über dreißig Jahre später, wissen wir es längst.
Joe Jackson - You Can't Get What You Want ('Til You Know What You Want). https://www.youtube.com/watch?v=G3ZZN6ybwHg

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen