Samstag, 27. August 2016

Das Haus der Zukunft

„Bin ich verantwortlich für den Geist des Zeitalters? Ich nehme die Zeit, wie sie ist, und behalte mir nur vor, im Stillen meine Beobachtungen zu machen.“ (Robert Walser: Jakob von Gunten)
Emma ist fünf Jahre alt und steht in ihrem neuen Zimmer. Sie schaut auf ihr Handy und sagt: „Vor dem Fenster ist Lars. Der darf zu mir reinkommen.“ Ich schaue aus dem Fenster und sehe tatsächlich Lars, der gerade sein Fahrrad abschließt. Lars ist Emmas großer Bruder. Ich bin immer noch verblüfft über die neue Technik.
Kurze Zeit später sitzen wir Erwachsenen im ersten Stock und beraten, wer von uns Zugang zu welchem Zimmer hat. Das Mehrfamilienhaus ist vor einigen Wochen fertiggestellt worden. In einigen Räumen fehlen noch die Möbel, aber wir können bald einziehen. Küchen, Bäder und die Hauselektronik sind eingebaut. Das Haus hat hohe und helle Zimmer mit großen Glasflächen und -türen, die im Erdgeschoss in den Garten und im ersten Stock auf die umlaufende Veranda führen.
Im Prinzip sollen alle Mitglieder der vier Familien Zugang zu allen Räumen haben. Im Prinzip. Aber Max ist Rechtsanwalt und möchte, dass sein Arbeitszimmer aus Sicherheitsgründen gesperrt bleibt. Er bewahrt vertrauliche Unterlagen auf und möchte bei der Arbeit auch nicht von den Kindern gestört werden, wenn ihn z.B. ein Mandant besucht. Wenn er in seinem Arbeitszimmer ist, kann man anklopfen und per Handy oder am PC öffnet er die Tür für den Besucher. Nachts sind die Türen zwischen den vier Wohnungen grundsätzlich geschlossen, die Außentüren sind ohnehin elektronisch gesperrt. Per Mausklick lassen sich die Türen von Badezimmern und Schlafzimmern jederzeit einzeln sperren, um die Privatsphäre zu gewährleisten.
Klingt eigentlich ganz einfach, ist aber doch ziemlich kompliziert, wie wir bei der Besprechung merken. Die Eltern von Thorsten und Steffi wohnen in der Nähe und kümmern sich gelegentlich um die Kinder. Sie erhalten die Zugangscodes zur Außentür ihrer Wohnung, aber sie haben keinen Zugang zu den anderen Wohnungen. Den Kindern wollen wir natürlich tagsüber erlauben, überall im Haus zusammen zu spielen. Sie dürfen in die anderen Wohnungen, die Großeltern aber nicht. Sie könnten im Zweifelsfall den Enkelkindern nicht folgen, denn sie würden einen Alarm auslösen, wenn sie ohne Zugangscode eine der anderen Wohnungen betreten. Die Hauselektronik registriert ihre Position automatisch über das GPS des Handys. Ohne Handy könnten sie aber den Enkelkindern durchs Haus folgen und damit die Vereinbarung umgehen.
Was dürfen welche Menschen zu welcher Uhrzeit in unserem Haus, was die Bewohner, was ihre Besucher? Wie vielen Menschen gewähren wir Zugang zu unserem Haus? Können die Kinder Besucher per Handy auf der Toilette einsperren? Wer ruft wen an, wenn eine Tür sich nicht öffnen lässt oder der Akku gerade leer ist, wenn man am Morgen aufsteht? Das Haus der Zukunft soll einfach sein, ist aber in Wirklichkeit eine Herausforderung. Am Ende meines Traums laufe ich alleine durch die leeren Zimmer des neuen Hauses und suche die anderen Menschen. Ich wache schweißgebadet auf. Kein Witz.
Fiction Factory - Feels Like Heaven. https://www.youtube.com/watch?v=bXfT-LVFPsk

3 Kommentare:

  1. Ich bin wohl doch immer noch zu bürgerlich, um mich an solchen Experimenten zur alternativen Lebensführung beteiligen zu wollen....

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  2. ....auf diese Haus kann ich gerne verzichten....

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  3. Dass Du doch immerzu alle Geheimnisse ausplaudern musst...!
    Freiheit bewährt sich im Ausschluss vom Zugang.
    Der Anderen.
    Die ihrerseits ja ebenso frei sind, den Zwang als Freiheit zu dealen.

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