Sonntag, 7. September 2014

Der Flügelschlag eines Schmetterlings

Lisa saß in ihrem Büro und arbeitete an einem Text für ihre Agentur. Nichts Besonderes. Ein Rundschreiben an alle Autohändler eines Unternehmens, für das die Agentur arbeitete. Sie kannte den Auftraggeber nicht persönlich. Ihr Vorgesetzter hatte ihr die Anweisung gegeben, den Text zu schreiben und ihm anschließend per Mail zu schicken. Sie schaute aus dem Fenster und sah einen Schmetterling. Das war ungewöhnlich, denn sie arbeitete im siebten Stock eines Bürohochhauses in der Innenstadt. Sie erinnerte sich an einen Schmetterling, den sie im Urlaub gesehen hatte, als sie auf einer Liege am Rand des Schwimmbeckens einer Hotelanlage in Spanien gelegen hatte. Damals hatte sie gerade einen Roman gelesen, aber sie konnte sich nicht mehr an den Titel erinnern. Sie beschloss, sich nach Feierabend in der Bahnhofsbuchhandlung etwas zu lesen zu kaufen. Und tatsächlich ging sie gegen 18 Uhr in die Buchhandlung, nahm sich der Einfachheit halber aber nur eine Zeitschrift mit, in der sie auf ihrer Zugfahrt nach Hause blätterte. In der Zeitschrift waren bunt bebilderte Rezepte für verschiedene südindische Gerichte und sie beschloss, sich am Abend etwas Indisches zu kochen. Auf dem Weg von der Haltestelle zu ihrem Appartement in einem Vorort besorgte sie die Zutaten für ein scharfes Curry-Gericht mit Auberginen. Zu Hause angekommen ging sie in die Küche und begann zu kochen. Sie aß eine große Portion und trank ein Glas Rotwein.
Am nächsten Morgen sollte sie auf eine Dienstreise zu einem Kunden aufbrechen, der Vorschläge zur Überarbeitung seines Internetauftritts erwartete. Von dem scharfen Essen hatte Lisa jedoch Durchfall bekommen und konnte unmöglich ihre Wohnung verlassen. Und so verpasste sie den Zug, der sie in die Stadt bringen sollte, in der ihr Kunde mit seinen Mitarbeitern vergeblich auf sie wartete. Sie hatte eine Fahrkarte mit Platzreservierung. Auf dem Nachbarplatz hätte Max gesessen. So haben Lisa und Max sich nie kennengelernt. Sie haben sich nicht ineinander verliebt, sie haben nicht geheiratet und Sarah kam nie auf die Welt. Max heiratete zwei Jahre später eine andere Frau, deren Eifersucht und Kaufsucht ihn zu einem verbitterten und unglücklichen Menschen werden ließen. Als Lisa eine Stunde zu spät bei ihrem Kunden erschien, war er bereits selbst dienstlich außer Haus und ließ ihr ausrichten, er würde sich für den Auftrag eine andere Agentur suchen. Lisa fuhr in ihr Büro und berichtete ihrem Vorgesetzten, was geschehen war. Er machte ihr Vorwürfe. Warum sie nicht angerufen habe. Sie sagte, sie hätte die Nummer des Kunden nicht gehabt und sie habe praktisch durchgängig auf der Toilette gesessen. Auch ihr Text sei schlecht, sagte er ihr. Lauter Schmetterlinge. Was das solle. Sie blieb stumm. Zum Monatsende wurde sie entlassen. Sie bekam Depressionen und lebt heute völlig zurückgezogen in ihrem Appartement.
Sarah wäre eine wunderbare Tochter geworden. Sie hätte ein Medikament entwickelt, das den Krebs für alle Zeiten besiegt hätte. Sicherlich hätte sie sich um Lisa und Max gekümmert, wenn sie krank und alt geworden wären. Und sie hätte ihren Eltern auch die Chaostheorie erklären können. Und …
Blink 182 – All The Small Things. http://www.youtube.com/watch?v=nL7YZaWmDOo

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