Donnerstag, 18. September 2014

1987

Auszüge aus dem Notizbuch:
19. Februar. Lagebericht: Der Planet ist siedend heiß. Zwei Blinde duellieren sich. Nur noch Minuten oder Stunden. Wahrscheinlich aber Tage.
20. Februar. „Sehr geehrter Herr Aufsichtsratsvorsitzender! Im Namen meiner Organisation darf ich Ihnen mitteilen, dass ein so monströser Plastikfurz unserer deformierten Zuhältergesellschaft wie Sie bei der bevorstehenden Revolution sofort an die Wand gestellt wird. MfG uswusf.“ (Briefentwurf, nicht versandt)
21. April. Der große Tag. Prüfung für die angehenden Schriftsteller. Der Lehrer tritt in die gespannte Stille des Saals. Ungefähr zwanzig Auserkorene sitzen, Stift und Block in der Hand, im Kreis um sein Pult. Da holt er ein altes Kissen aus seiner Mappe, zerknautscht es recht gründlich und legt es vor sich hin. „Beschreiben Sie dieses Kissen in allen Einzelheiten! Bitte nicht unter zehn Seiten.“ Tja, da zeigt es sich, wer zum göttlichen Boten der Kunst geboren ist.
20. Mai. A kam mit drei Augen zur Welt. Er ging daran zugrunde, dass er sie nie alle gleichzeitig schließen konnte.
25. Mai. In der Kneipe: Dem Erzähler ins Wort fallen und sagen „Pünktchen, Pünktchen, Pünktchen, Anführungszeichen oben“.
15. Juli. Endlose Dunkelheit. Alles, was ich höre, ist das dumpfe Prasseln von Sand auf dem Holz über mir und ein unentschlüsselbares Gemurmel wie aus weiter Ferne. Doch diese unheimlichen Laute werden immer leiser und leiser, schließlich verstummen sie ganz. Beruhigt streiche ich mein Totenhemd glatt und schließe wieder die Augen. Die Tage, von denen ich nur träumte, waren die besten meines Lebens. Ich würde gerne als Stein wiedergeboren werden. Breit und unbeweglich würde ich in der Sonne liegen. Unterhalb des Plateaus, auf dem ich liege, rauschen dunkle Tannen, die mich abends mit ihren Schattenspitzen kitzeln. Fern ist aller Wandel, gleichgültiger Regen erfrischt mich, in meinen Adern fließt Quarz mit der stummen Treue alles Unlebendigen und tief im kühlen Inneren verborgen – winzig wie eine Mäuseträne – schlägt mein Herz aus Gold zehntausend Jahre lang.
14. September. Stell dir vor: Du liegst im Bett, hast die Augen geschlossen und lauscht dem leise rauschenden Strom deiner Gedanken und Empfindungen – plötzlich ein silberhelles Glöckchen. „Wo bist du?“ flüsterst du, „Zeig dich!“ Da tritt es hinter einer Biegung deines Gehirns hervor, in ein himmelblaues Sommerkleid gehüllt, schüchtern lächelnd, schön und begehrenswert: Der Wunsch nach einem kühlen Bier. Widerstandslos gleitet dein geschmeidiger Körper aus den sanften Kissen, schwebt fast zum Kühlschrank … ein leises Plop, ein kurzes Zischen … während dein Geist unverändert in einem Garten spazieren geht … in der Sonne glitzert der bernsteinfarbene Trunk herrlich erfrischend … Na, ist das nichts?
15. September. Ich habe es mir nicht nehmen lassen, einen kurzen Blick auf das Finale der US Open zwischen Ivan Lendl und Mats Wilander zu werfen. Es sind bereits vier Stunden gespielt und eben haben beide Spieler den Platz verlassen, um mal auf die Toilette zu gehen. Sowas habe ich noch nie erlebt. Plötzlich geht der Schwede in den Gang und verschwindet aus dem Stadion. Lendl guckt blöd, zuckt mit den Schultern, dann läuft er hinterher. Die Kameras schwenken zunächst über die Zuschauer, dann richten sie ihre Augen auf den Gang zum WC. Alles live! Ein Wunder, dass im Klo noch keine Kamera hängt. Nach diesen Stunden verbissenen Kampfes vor mehreren hundert Millionen Zuschauern, wo jedes noch so unauffällige Popeln über den Bildschirm flimmert, wo sogar nochmal in Zeitlupe wiederholt wird, wie beide zur Toilette gehen, da stehen jetzt beide allein am Rinnstein und sehen sich das erste Mal heute ganz ungestört aus der Nähe. Das gibt diesen Gladiatorenkämpfen fast schon eine menschliche Note.
16. September. Fassungslos stürmt Frau Hermannovsky in den Salon. „Mein Mann treibt es gerade mit einer Gummipuppe“, ruft sie, bevor sie sich wieder an den Kaffeetisch zu ihren Freundinnen setzt. Alles schweigt, hämische Blicke werden getauscht.
17. September. Meldung der Woche: Die Stiftung Warentest hat herausgefunden, dass von den 55 bekanntesten und meistverkauften Zahnpasten in Deutschland 53 ein Mittel zur Erregung von Parodontose enthalten, was ja den alten Wahlspruch vom „Kapitalismus, der seine eigenen Bedürfnisse produziert“, aufs Vergnüglichste vitalisiert.
4. Oktober. Mein Großvater ist gestorben. Er war Jahrgang 1904, hatte zehn Geschwister und arbeitete nach acht Jahren Volksschule auf den Feldern der Familie, später in einem Steinbruch. Musste 1945 mit dem „Volkssturm“ noch in den Krieg ziehen, geriet schnell in Kriegsgefangenschaft und war zwei Jahre in Cherbourg/Frankreich. Danach war er nie wieder im Ausland und hat nur selten das Dorf verlassen. Hat es als Maurer bis zum Polier gebracht und war ein großer Trinker. Nach der Beerdigung kam der Wirt seines Stammlokals und wir zahlten den letzten Deckel. Die alten Familienunterlagen, die schwerfällige Schrift meines Urgroßvaters, Jahrgang 1868, der noch im geteilten Deutschland geboren wurde (damals gab es 35 Staaten) und als Bauer wohl kaum viel geschrieben haben wird.
30. Dezember. Dieses Jahrzehnt hat erschreckende Menschen hervorgebracht. Ganze Bevölkerungsgruppen sind infiziert. Vorwärtskommen, unpolitisch, unsozial, geschichts- und gesichtslos, durchgestylt, frecher Kleider- und Möbelstil – alle auf die gleiche Weise frech – und abends sorgenbrechende Getränke.
Iggy Pop – Lust For Life. http://www.youtube.com/watch?v=9GvjhpF8mlw

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