Freitag, 19. September 2014

1988

Auszüge aus dem Notizbuch:
9. Januar, Ingelheim. „Wo immer ich auch jetzt gerade sein mag – wir sind da.“ Das Seven Heavens ist keine gewöhnliche Kneipe. Du kannst sie nicht finden, tagsüber schon gar nicht. Du bist mit ein paar Freunden unterwegs und landest einfach dort, oft unter merkwürdigen Umständen. Wenn du erst mal drin sitzt, kannst du dir das Leben außerhalb ihrer Mauern kaum vorstellen. Früher dachte ich sogar, die Kneipe würde einfach jeden Abend an einem anderen Ort auftauchen, sie wäre nur zu finden, wenn man es unbedingt will, so als ob sich deine Bedürfnisse an einem bestimmten Punkt in Raum und Zeit materialisieren.
11. Mai. Verlockung ist das Geschäft der Welt. Sie bekämpft nicht mehr, sie schluckt mit der Blindheit einer tödlichen Liebe. Sie erstickt ihre Gegner in Wärme, sie ertränkt sie in Verzückung, sie verbrennt sie in der Ewigkeit, sie frisst sie in der Finsternis. Die Verschmelzung der Gesellschaften dieser Welt zu einer Weltgesellschaft fordert ihre Opfer in einem unaufhörlichen Schleifprozess an den Rändern ihrer Wirklichkeit. Wenn alles erreichbar wird, hat nichts mehr einen Wert. Die Weltgesellschaft findet ihre Zerstörung in der Begrenztheit ihres Raums. Ihre Formel „Beschleunigung und Expansion“ wird an Grenzen stoßen, an denen der Zerfall beginnt.
2. Juli. A: „Wie sich wundersam Zeile an Zeile reiht.“ B: „Ja, so beginnt meistens der Abstieg.“
Betätigungsfeld für ausgepowerte Heroinsüchtige: In der Codier-Abteilung eines Geheimdienstes tippen sie zu Musik ihrer Wahl blind auf der Tastatur einer Schreibmaschine oder eines Computers herum. Nach diesem garantiert zufälligen Code werden dann die Nachrichten verschlüsselt. Merke: Der Geheimdienst zahlt gut und er sorgt für den Stoffnachschub seiner Angestellten.
Ich habe letzten Samstag das Trinken eingestellt. Alle sind maßlos erstaunt und jeder fragt mich, bis wann ich das machen wolle. „Bis zu meinem Geburtstag“, antworte ich wahrheitsgemäß. „Ach“, rufen sie dann und klopfen mir auf die Schulter, „du hast morgen Geburtstag. Irre, Mann!“ Was soll aus mir mit solchen Freunden werden?
Der chinesische Weise Juch-he wurde in der Bahnhofsgegend gesichtet. Halten Sie Türen und Fenster geschlossen und antworten sie nicht auf philosophische Fragen!
„Ah, es wird Abend, der Urin hellt sich auf.“ Spruch eines stadtbekannten Säufers.
14. August. „Ich Arschloch“, ein Gedicht:
Der Schrank ein Berg
Die Flaschen Ritter
Die Teppiche Landschaften
In denen sie reiten
Unter der Sonne
Einer Sechzig-Watt-Birne
Hügelland des Bettes
Unter dem Himmel
Fleckig und rissig
Ein Schloss aus alten Socken
Und ich Arschloch mittendrin
27. September. Ich habe in den Semesterferien fünf Wochen lang mit einem tibetanischen Mönch zusammengearbeitet. Irgendwo im gesichtslosen Umland Frankfurts in einem unbeschreiblich öden Industriegebiet gab es eine Fabrik, in der Werbematerial der chemischen Industrie versandfertig gemacht wurde. Dort standen wir zusammen an einer Verpackungsmaschine, die wie ein rätselhaftes Tor durch die Zeit aussah und die mit beeindruckender Geschwindigkeit ein sogenanntes Lassoband um die Pakete schießen konnte. Natürlich konnte man alle möglichen Späße mit der Maschine machen, wenn Cheffe nicht da war. Ein richtig beschissener Job mit Stechkarte und gestapomäßigem Vorarbeiter. Der Mönch wurde in der Fabrik nur geduldet, weil der Oberboss den Dalai Lama persönlich kannte und ihm versprochen hatte, einen seiner Leute in der Fabrik unterzubringen. Von diesem Tibetaner habe ich erst wirklich gelernt, wie man die Arbeit angehen muss. Er schlenderte meistens pfeifend durch die Fabrikhalle, verbreitete lächelnd gute Laune, hielt gerne ein Schwätzchen, wobei ich sein Gesicht nur mit einem permanenten Grinsen in Erinnerung habe. Wahrscheinlich hat er sich über die deutschen Arbeiter kaputt gelacht. Wenn diese grauen fetten Loser im Sozialraum über der BILD und ihren dicken Wurststullen brüteten, las er irgendwelche religiöse Texte und trank Tee. Dieser Mann war nie in Eile und ich habe ihn nie schlecht gelaunt erlebt. Obwohl er wesentlich älter als ich war, sah er unglaublich jung aus. Mit diesem Arbeitsstil wird der Mann glatt hundert Jahre alt, soviel ist sicher. Damals hatte ich den Traum, einen tibetanischen Flipper zu bauen, dessen Kugeln sich ganz langsam und eigenwillig bewegen. Wie die Schneeflocken in diesen Plastikwelten, die man überall auf der Welt Touristen verkauft. Eigentlich war er an seinem Arbeitsplatz nicht anders als im wirklichen Leben. Er war nicht jemand anderes, wenn er seinen Arbeiterkittel trug und die Stechkarte abstempeln ließ. Kein anderes Tempo, kein anderer Charakter, keine andere Laune. Er redete nicht anders, wenn er mit dem größten Vollidioten oder dem Chef redete. Immer von gleich zu gleich, ohne Überheblichkeit oder Unterwürfigkeit. Obwohl er sicher in den Jahrzehnten des Studiums und der Meditation ein wahnsinniges Wissen angesammelt hatte. Er lachte über meine Späße mit derselben gutmütigen Gelassenheit, wie er über meine kleinen Rebellionen und Sabotageakte in der Fabrik lachte. Er lachte einfach über alles. Schließlich konnte er nicht gefeuert werden und irgendwann würde der Dalai Lama ihn mit ins freie Tibet nehmen. Als die Semesterferien vorüber waren, hat er mir zum Abschied meinen Namen auf tibetanisch auf die Rückseite eines Werbeplakats für Kunstdünger gemalt. Ich habe die Buchstaben dann auf mein Klingelschild übertragen, gute Freunde finden meine Behausung sowieso immer.
7. Dezember. Großmutter wird in die Nervenheilanstalt Andernach eingeliefert. Bei einem Besuch strecken sich mir Arme entgegen. „Nimm ich mit nach draußen, nimm mich mit nach Hause!“ rufen mir fremde Menschen zu. Meine Großmutter fragt mich, wer ich sei. Eine Frau am Nachbartisch sagt ins Leere hinein: „Ich habe viel geweint heute Nacht.“ Eine gefesselte Frau im Rollstuhl ruft Namen. Ein Mann setzt sich zu uns an den Tisch und erzählt mir seine Geschichte. Er sei durch eine Intrige des behandelnden Arztes hier, dessen Affäre er kenne. Seit 1930 sei er hier, die Daten schwanken allerdings innerhalb seiner Erzählung. Er entblößt diverse Körperteile zur Dokumentation seiner Krankengeschichte. Ich bin froh, als mich ein Pfleger hinaus begleitet. Erleichterung der Freiheit.
DNA feat. Suzanne Vega – Tom’s Diner. http://www.youtube.com/watch?v=ffdWUvxyB_c

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