Mittwoch, 2. März 2022

Der Kugelschreiber

 

Man hatte mich vor Gerber gewarnt. Der große Diktator. Seine Schreckensherrschaft erstreckte sich über die gesamte Materialausgabe im Untergeschoss. Er genoss es sichtlich, Macht über andere Menschen zu haben, erzählten mir die Kollegen.

Ich hatte ein mulmiges Gefühl, als ich an seine Tür klopfte.

„Herein!“ brüllte er.

Ich öffnete die Tür und ging zu seinem Schreibtisch. Gerber trug einen dunkelblauen Kittel und die langen grauen Strähnen, die er sich über seine Halbglatze gekämmt hatte, sahen aus wie Stacheldraht.

Er musterte mich misstrauisch von oben bis unten. „Was wollen Sie?“

„Einen Kugelschreiber“, antwortete ich.

„Da könnte ja jeder kommen“, bellte Gerber.

Aber ich war vorbereitet. Wortlos zog ich ein sorgfältig zusammengefaltetes Formular aus der Jackentasche, das von meinem Vorgesetzten unterschrieben und abgestempelt war. „Auftrag zur Materialbeschaffung. 1 Kugelschreiber, schwarz. Empfänger: Markus Montag.

Er holte eine dicke Hornbrille aus seiner Brusttasche und studierte minutenlang das Formular.

„Ihren Personalausweis“, sagte er schließlich.

Ich zeigte ihm meinen Ausweis, den er einer ausführlichen Prüfung unterzog. Nachdem er mir den Ausweis wiedergegeben hatte, stand er auf und heftete das Formular in einem Aktenordner ab. Dann verschwand er hinter den hohen Metallregalen hinter seinem Schreibtisch.

Nach fünfzehn Minuten kam Gerber wieder zurück. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und holte ein Formular mit der Überschrift „Empfangsbescheinigung“ aus einer Schublade.

„Hier unterschreiben. Das Original bleibt bei mir, der Durchschlag ist für Ihre Unterlagen.“

Ich holte meinen Kugelschreiber aus der Jackentasche, unterschrieb und schob ihm das Formular über den Tisch zurück.

„Wozu brauchen Sie eigentlich einen Kugelschreiber, wenn Sie schon einen haben?“

„Der ist für einen Praktikanten und verbleibt nach Abschluss des Praktikums in unserer Abteilung.“

„Warum haben Sie dann nicht Ihren Praktikanten zu mir geschickt?“

„Der kommt erst nächste Woche.“

Ich war auf alles vorbereitet. Meine Geschichte wirkte glaubwürdig. Oder roch er meine Angst? Ich fühlte mich wie ein Angeklagter, der im Gerichtssaal vom Staatsanwalt ins Kreuzverhör genommen wird. Würde er Nachforschungen über den Praktikanten anstellen, den ist in Wirklichkeit gar nicht gab?

Er zögerte einen Augenblick. Dann gab er mir den Kugelschreiber. In seinem Blick lagen Wut und Verachtung.

„Danke“, sagte ich und steckte den Kugelschreiber ein.

Er antwortete nicht. Ich verließ schweigend das Büro. Geschafft!

 

20 Kommentare:

  1. Sind das böse Vorahnungen auf die zu erwartenden Rationierungen?

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  2. Parallelen zu meinem früheren Arbeitsplatz und mit lebenden Personen sind wohl recht zufällig... ODER 🤔🤫😁

    YOU MADE MY DAY... wieder einmal... DANKE... lb Matthias 🖊️ 😘

    Ersatzkugelschreiber - zur SICHERUNG des FRIEDENS - kommt demnächst 📮 *kicher*

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    1. Ja. Aber ich habe leicht übertrieben. Vielleicht werden diese Leute so, wenn sie über solche Mengen an Büromaterial herrschen. Sie bewachen sie wie einen Schatz. Als wäre es ihr persönliches Eigentum.

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    2. ... Ich kenne es aber SO 🤣 = öffentlicher Dienst... hüstel 🙄 Die Angestellten mussten ALLES - schriftlich - beantragen 🖊️ 🤔
      Derweil reiste Bürgermeister privat, per Heli, Freßkörbe erhalten und Geliebte auf neu, unnötig eingerichteten Arbeitsplatz geparkt 😜 (auf Staatskosten) - wissentlich - auf/mit privaten Firmengeldern... ABGRÜNDE 🙈🙉🙊

      Avmwsdn = aber von mir wissen sie das nicht 🤑

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    3. Ich habe es so in zwei Forschungsinstituten und bei einem Privatunternehmen erlebt. Lustig waren auch immer die Reisekostenabrechnungen, wenn man jedes Mal schriftlich begründen musste, wenn man auf einer Dienstreise ein Taxi und nicht den Bus genommen hat. Aber beim Auftraggeber der Forschungsprojekte wurde jeder Arbeitstag von mir mit 800 Euro berechnet :o)

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    4. Gestatten das ich mich einmische?
      Ich erinnere mich an unseren Schulhausmeister.
      Immer gewissenhaft im grauen Kittel und Namensschildchen am Revers.
      Er bewachte die Kreidestation im Keller wie Fort Knox.
      Die Verantwortung und seine Gewissenhaftigkeit waren sicher zu viel für ihn.
      Er erlag einem Herzinfarkt beim Laubkehren im Schulhof während der Ferienzeit.
      TrueStory ichschwör

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    5. + was hast DU davon gesehen... 🤔... 1/4 wenn DU 🍀 gehabt hast ?!? *tja*

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    6. Es war noch weniger. Ich habe Gehaltsstufe A 13 bekommen, kennst du ja aus dem ÖD. Soviel wie ein Studienrat am Gymnasium.

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    7. @ anonym

      Als ich in der 5. Klasse ans Gymnasium kam, war unser Hausmeister (ebenfalls mit grauem Kittel) ein junger Mann mit dunkelblondem Haar. Er wohnte mit seiner Frau direkt neben der Eingangstür. Als ich neun Jahre später das Gymnasium verließ, war er ein alter Mann mit grauen Haaren geworden.

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    8. A 13 Eingangsstufe ist ein Hungerlohn. Da bleiben bei Steuerklasse I 2000 € von übrig. Ein Studienrat am Gymnasium ist A 15

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    9. @anonym: In NRW A13: Grundgehalt 4563€, netto 3514€.
      https://oeffentlicher-dienst.info/beamte/nw/

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  3. Das ist schon... also, mein lieber Scholly. Unter meinen "Kontakten" im alten Handy war ein gewisser Markus Montag vermerkt. Aus nachvollziehbaren Gründen. Da ich damals mehrere Marküsse kannte, nannte ich den Markus, mit dem ich mich Montags zu treffen pflegte, Jetzt mal egal, WARUm, Markus Montag. Ist es zu fassen?

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    1. Ich kenne dein altes Handy. Ich habe alle deine Daten. Dreh dich beim Spazierengehen öfter um ;o)

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  4. Das, was Angelnette und du in eurer Kommentarunterhaltung erzählen kenne ich aus einer Praktikumsstelle für meine Umschulung, da gabs das nicht nur für Büromaterial. (Meine damalige Kollegin hat regelmäßig um das Theater zu umgehen eigene Bleistifte oder ähnliches mitgebracht, die wanderten dann natürlich ohne ihre Zustimmung in Eigentum des Chefs über, der ihr die angeblich rausgegeben hatte...)

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    1. Büromaterial. Da bin ich an einem ganz heißen Thema dran ;o)

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    2. Konferenzkekse. Auf diesen Posten muss der Prokurist den Finger legen. Sind eh alle zu fett, diese Kostenstellen auf zwei Beinen.

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    3. Wenn das Thema durch ist, bitte dasselbe mit Kaffeepads, das konnte der Chef da auch ganz gut. (Dreimal am Tag unterschreiben für sechs Kaffeepads...)

      (Soll ich dir was Off-Topic erzählen? Wir beide sprachen doch irgendwann letztes Jahr in deiner Kommentarspalte darüber, dass ich nicht mehr schreiben kann/konnte seit mir meine Blogs zerstört wurden. Ich habs geschafft, einen Fiktionstext in eine Anthologie zu bekommen. Wenn das wieder geht, lerne ich den Rest vielleicht auch wieder. Dann hätte ich auch wieder einen Grund für den Erhalt von Stiften unterschreiben zu müssen.)

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    4. @ dergl

      Herzlichen Glückwunsch! Kannst du mir den Titel der Anthologie verraten oder wäre das zu indiskret.

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    5. Kann ich dir verraten, ist aber noch nicht draußen. Mir wurde mitgeteilt, dass man wegen Corona verzögert ist, soll aber Ende März/Anfang April wohl soweit sein. Die Druckfahnen hatte ich Mitte Februar zur Korrektur. "Bittersüße Wirklichkeit" im Geest-Verlag, sollen zwei Bände werden, weil wohl über 500 Texte eingesandt worden sind (es war ursprünglich ein Wettbewerb, ob ich mit meinen zwei Seiten was gewonnen habe, weiß ich nicht, ich hab das nur zur Übung gemacht). Das war eine Ausschreibung extra für Autor*innen mit Behinderungen/chronischer Erkrankung zu dem Thema, das auch der Titel der Anthologie ist.



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