Mittwoch, 19. April 2017

Der seltsamste Job meines Lebens

„Seit Jahren habe ich mir vorgenommen, mal wieder ein echtes Wiener Schnitzel zu essen. Wie lange habe ich kein Wiener Schnitzel mehr gegessen, sondern immer wieder nur Schnitzel Wiener Art? Aber jetzt bin ich in einem österreichischem Lokal in Berlin und es ist endgültig vorbei mit der sogenannten deutschen Küche, mit der sogenannten gutbürgerlichen Küche, die ich seit Jahren in der Provinz durchlitten habe. Jetzt gibt es ein richtiges Wiener Schnitzel, goldgelb gebacken und mit warmem Erdäpfelsalat serviert. Keine Pommes frites, keine Jägersoße, keine Kompromisse. Und ich werde gleich morgen hier ein Kaisergulasch essen und übermorgen ein Bluntzengröstel, weil ich es satt habe. Weil ich in meinem Dorf nichts zu essen bekomme, weil es dort kein Gasthaus gibt, aber wenigstens kann man zum Winzer gehen und sich für Münzgeld zu Tode saufen. Herrgott, habe ich einen Hunger. Und hinterher gibt’s noch einen Kaiserschmarrn!“ (Andy Bonetti: Hunger und andere Gefühle)
„Ist das Gulasch schön zart?“
„Ja, es ist ausgezeichnet“, antwortete ich. „Es zergeht auf der Zunge wie Butter. Man könnte es mit einem Löffel zerteilen.“
Er hob seinen Kopf. Es strengte ihn sichtbar an. „Ich rieche Rotwein. Ist etwas Wein in der Soße?“
„Sie haben einen ausgezeichneten Geruchssinn. Es ist tatsächlich Rotwein in der Soße. Er passt hervorragend zum Rindfleisch.“
Er lächelte und schloss für einen kurzen Moment die Augen. „Das mährische Kraut ist mit Kümmel angemacht. So mag ich es.“
„Ich finde es viel besser als unser ordinäres Sauerkraut. Kümmel gehört einfach dazu.“
Er betrachtete aufmerksam, wie ich die Gabel zum Mund führte, wie ich kaute und schluckte. Der Mann schien es wirklich zu genießen.
„Würden Sie jetzt bitte die Kartoffelchips für mich essen?“
„Gerne.“ Ich nahm eine Handvoll Chips aus der Porzellanschüssel und kaute krachend.
Der Mann verzog den Mund zu einem breiten Grinsen, als er mir zuhörte. „Es sind Paprikachips, oder?“
„Ja, ganz schön scharf. Ich glaube, ich muss etwas trinken.“
„Ja, bitte trinken Sie.“
Ich hob das Bierglas und trank in langen Zügen, während der Mann abwechselnd das Glas und meinen auf und ab hüpfenden Kehlkopf beobachtete.
„Jetzt noch ein bisschen Apfel.“
Ich biss herzhaft in die Frucht und verzog leicht das Gesicht, als ich die Säure schmeckte.
Es schien den Mann zu freuen, denn jetzt lehnte er sich in seinem Bett zurück und sah sehr zufrieden aus.
„Kennen Sie Kafka?“ fragte er mich.
„Ja. Soll ich Ihnen etwas vorlesen?“
„Danke. Nicht nötig. Kafka hatte Tuberkulose und konnte am Ende nicht mehr schlucken. So wie ich. Freunde saßen an seinem Bett und mussten Bier trinken. Er hatte seine Freude daran, sie zu betrachten.“
„Ihnen scheint es ja auch großen Spaß zu machen. Wie lange werden Sie schon durch den Schlauch ernährt?“
„Seit zwei Wochen. Aber jetzt habe ich ja Sie. Sie essen und trinken für mich.“
So ging es noch vier Wochen, bis er an Kehlkopfkrebs gestorben ist. Jeden Tag kam ich zwei Stunden bei ihm vorbei. Seine Frau hatte alle Speisen und Getränke vorbereitet. Ich musste nur essen und trinken. Ganz nah bei ihm, damit er alles hören, sehen und riechen konnte.
Ich habe nie wieder auf so eine seltsame Annonce geantwortet: „Guter Esser und Trinker gesucht.“ Und ich hatte nie wieder so einen Job wie bei Herrn Warmsroth.
Holger Czukay, Jah Wobble, Jaki Liebezeit - Full circle (rps no.7). https://www.youtube.com/watch?v=wWAplMCK03Q

5 Kommentare:

  1. Anrührende Geschichte.
    Habe auch die österreichische Küche zu schätzen gelernt. Man muß es ja fast schon verheimlichen, wenn man seinen Jahresurlaub in der Alpenrepublik verbringt, streben doch die Freunde nach Thailand, ( mit Ehefrau, also bitte ! ) oder nach Namibia ( da mußt du hin, gaaanz toll ! ) oder wohin auch immer.
    Aber die "jungen" österreichischen Köche, die sind ja inzwischen auch schon 50, gestählt auf Kreuzfahrtschiffen oder in irgendwelchen Ferienressorts des Club Med, bringen eine tolle Crossoverküche auf den Tisch, daß es eine Art hat.
    Und trotz aller Ausflüge in fremde Küchen kann immer auch die traditionelle heimische Küche herausgeschmeckt werden. Und das schönste ist, hat man bei der Reise, bei einem Ausflug oder wie auch immer, einen Hunger, so kann nahezu überall angehalten werden und in das nächste Wirtshaus hinein, und man wird gut bekocht. Probieren Sie das mal in Frankreich, dem hoch gelobten Land der haute cuisine. Da bekam ich auch schon mal Fisch mit Catch up drauf. Zum kotzen.
    Das Ganze zu einem einigermaßen annehmbaren Preis. Gut, ich lebe im Südwesten, da ist das Preisniveau etwas höher, Leute aus Restdeutschland werden es als teuer empfinden.
    Trotzdem, Österreich, mein Speiseland.

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  2. In Berlin kann man nur an einem Ort ein gutes Wiener Schnitzel essen. In Rixdorf....nur mal so am rande

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    1. Du meinst doch hoffentlich nicht "Louis" am Richardplatz, bereits in meinem Roman "Ich träume deinen Tod" von 2009 verewigt? Wenn schon: "Sissi" in der Motzstraße ;o)

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    2. Ich kenne den Roman zugegeben nicht

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    3. Falls du tatsächlich das "Louis" meinst, solltest du ruhig mal deinen Horizont erweitern. Berlin ist voller österreichischer Restaurants, die sich lohnen. Da wären noch das "Austria" in der Bergmannstraße oder das "Diodata" in der Goltzstraße, gerne bin ich auch beim "Stelzeneder" in der Zillestraße. Diese drei Lokale plus "Sissi" liegen klar vor dem "Louis", das vor allem durch seine Portionsgröße besticht. In Berlin gehe ich jeden Tag essen, mein Spezialgebiet :o)))

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