Dienstag, 29. Dezember 2015

Berliner Asche, Kapitel 5, Szene 4

Mardo stieg in Schöneberg am U-Bahnhof Nollendorfplatz aus der U 2. Es war unglaublich heiß und voll in der U-Bahn gewesen. Dazu kamen schnurrbärtige Rumänen, die weder singen noch Gitarre spielen konnten, beides jedoch taten und jedes schöne Pop-Stück mit ihrem harten Akzent zerstörten, und Massen von Touristen, die ihren lärmenden Nonkonformismus in der Großstadt ausleben mussten.
Vor dem Bahnhof fragte ihn ein Punk: „Haste mal’n bisschen Kleingeld?“
„Klaro“, antwortete Mardo und ließ ein paar Messingmünzen in die offene Hand des jungen Mannes klimpern. Er hatte ein ockerfarbenes Andengesicht mit scharf geschnittener Nase, vielleicht ein peruanischer Punk, dachte er. „Aber alles für Suff ausgeben, kapiert? Nicht das du dir Vitamine von dem Geld kaufst!“ Er drohte ironisch mit dem Zeigefinger.
„Keine Angst, die Vitamine sind ja schon im Bier drin.“
Mardo überquerte den Platz und bog in die Maaßenstraße ein. Hier gab es jede Menge Cafés und andere Lokale. Er roch den schweren süßen Duft aus den türkischen Obstläden. Hier gab es viele Gerüche auf engstem Raum: Mal roch die Luft verbraucht, als sei sie von alten Männern ausgeatmet, mal nach widerlichem Oma-Parfum, mal nach Käse, mal nach Fisch. Hier gefiel es ihm besser als auf der Schönhauser Allee oder am Kollwitzplatz, wo angeblich die ganze hippe Prenzelbergscheiße lief.
Er war etwas zu früh gekommen. Die Versammlung der linken Szene sollte erst um neun Uhr beginnen. Also schlenderte er etwas durch die Straßen. Er kam an einem Waschsalon vorbei, wie immer sah man durch die großen Scheiben nur männliche Einzelgänger zwischen zwanzig und fünfzig. Aus einem Lokal drang das alkoholgetränkte Kreischgelächter eines aufgekratzten Damenkränzchens. Die Frauen wirkten so überdreht wie Vierzehnjährige, die zusammen ihren ersten BH kaufen wollen. Es war so laut, dass man seine eigenen Gedanken nicht mehr verstehen konnte.
Ein junger Fremder in teuren Markenklamotten sprach Mardo an: „Wissen Sie, wo das Hotel Blaschke ist? Es muss hier ganz in der Nähe sein.“
„Leider nicht.“
„Verzeihung, ich dachte, Sie wären ein Einheimischer.“
„Ja. Und darum habe ich hier auch noch nie in einem Hotel übernachtet.“
„Und wo kann man denn hier gut essen gehen?“
„Da empfehle ich Ihnen das Curry 36 auf dem Mehringdamm. Ein absolut angesagtes Edelrestaurant mit internationaler Küche. Der Clou ist, dass man an Stehtischen isst und das Essen auf Pappschalen serviert wird, so dass der Eindruck entsteht, als wäre man bei ganz einfachen Leuten.“
„Das ist ja abgefahren. Voll krass! Gehen da so Leute wie Sie hin, oder was?“
Mardo reagierte gelassen auf die Kritik an seinem Aussehen: „Es tut mir leid, dass mein Äußeres ihren ästethischen Anforderungen nicht entspricht. Viel Vergnügen.“ BWLer, dachte Mardo, das Fußvolk der Unternehmensbürokratie. In diesen Zeiten war das Wort „Egoist“ kein Schimpfwort mehr, es gab sogar ein Parfum gleichen Namens.
Zwei arabische Jugendliche unterhielten sich, einer stand am Fenster im zweiten Stock, der andere rief etwas hinauf. Die grüne Pastellfarbe der Fassade war verwittert und sah aus wie getrockneter Rotz. Auf dem Pflaster wie gewohnt die Verdauungsrückstände des besten Freundes, den der Mensch angeblich hat. Wenn sie unsere Freunde sind, dachte Mardo, warum scheißen sie dann immer auf die Gehwege, auf die Wildwechsel der menschlichen Gemeinschaft? „Ideal“ brachten es in ihrem Lied „Berlin“ auf den Punkt: „Auf dem Gehweg Hundekot; ich trink Kaffee im Morgenrot“.
Aus einem offenen Fenster nöhlte eine hohle Radiostimme. Irgendwelche Reisen wurden angepriesen. Mardo war am liebsten in Berlin. Was sollte er woanders? Und Geld oder auch nur Zeit für eine Reise hatten Julia und er sowieso nicht. Na und? Was machten Norweger eigentlich, außer in den Fjord zu scheißen? Und dann diese heimtückische Pralinenrepublik an der Nordseeküste namens Belgien, die es vermutlich ohne die EU-Bürokratie gar nicht mehr gäbe. Das brauchte kein Mensch.
Gut gelaunt, weil das Gehen sein Denken mal wieder angeregt hatte oder auch nur durch den bloßen Anblick seiner Stadt kam Mardo am Winterfeldtplatz an.
Zur Zeit des Mauerfalls stand noch eine dachlose Ruine am Ostrand des Platzes, wo heute ein modernes Freizeitzentrum für Leben sorgte. Irgendwann in den siebziger Jahren hatte man den Platz saniert, an dem früher der legendäre „Dschungel“ gewesen war. Hier trafen sich Studenten, Obdachlose, aber auch Lokalprominenz wie Romi Haak oder Rolf Eden. Der alte Playboy hatte später eine Disco auf dem Ku’damm aufgemacht und lebte diesen Alptraum immerwährender Virilität bis in den Greisentod hinein, ein zerfurchter Golem, ein Dorian Grey des Disco-Zeitalters, ein alberner Hanswurst am Arm eines jungen blonden Nichts. Die runtergekommenen Altbauten waren längst durch gesichtslose Hochhäuser ersetzt worden. "Niemandsland", "Kreuzritter" und "Mitropa" hießen die Kneipen, in denen die linke Szene damals abstürzen konnte. Mitte der achtziger Jahre kam dann eine Klage aus der DDR, danach wurde aus dem „Mitropa“ das „Café M“. Das Motto an der Wand stand für das Lebensgefühl im Winterfeldtkiez der Siebziger und Achtziger: "Erst Straßenkampf". Das Haus war damals besetzt gewesen und die Plätze bestanden noch aus Pflastersteinen, die immer gut in der Hand lagen, wenn man sie brauchte.
Heutzutage musste man sich schon auf eine Hausdurchsuchung gefasst machen, wenn man in der Wohnung einer verstorbenen Oma eine alte Waffe oder Munition aus dem zweiten Weltkrieg gefunden hatte und so blöd war, sie bei der Polizei abzugeben. Und wegen politischer Parolen an den Häuserwänden rückte gleich die Spurensicherung der Kripo an. Mardo kannte diesen Teil der Stadtgeschichte nur aus Erzählungen. Auf den Versammlungen der Studenten, zu denen ihn seine Freundin Julia immer mitgeschleppt hatte, wurden diese mündlichen Überlieferungen aus dem zwanzigsten Jahrhundert von den Alten weitergegeben.
Kurz nach neun Uhr betrat er das „Café M“ in der Goltzstraße 33. Marek kam mit dem Rad aus Neukölln und würde sich vermutlich mal wieder verspäten.
Es waren hauptsächlich Frauen anwesend, da einige der Männer noch auf den Polizeiwachen ihre Aussagen machten und erkennungsdienstlich behandelt wurden.
"Freier Wille statt Bevormundung durch den Staat", mahnte ein Wandplakat gegen das Rauchverbot in Gaststätten.
Daniela Mohrenstecher hielt gerade eine flammende Rede zur Geschlechtergerechtigkeit: „Machen wir uns nichts vor: Wenn Frauen ein Arbeitsfeld erobern, heißt das, dieses Feld ist gesellschaftlich unbedeutend geworden. Als die Männer bemerkt haben, dass man an den Finanzmärkten besser verdient als in Arztpraxen, wanderten die männlichen Alphatiere in die Banken und Unternehmensberatungen. Seit die Frauen massiv in den Arztberuf drängen, sinken in diesem Bereich die Verdienstmöglichkeiten. Aus der Bildung verabschieden sich die Männer auch, interessanterweise von unten nach oben, in nennenswerter Zahl besetzen sie noch die Lehrstühle der Universitäten, in Kindergarten und Grundschule sind sie schon lange verschwunden. Und jetzt: Politik. Ich sehe es mit einem lachenden und einem weinenden Auge, dass die Politik immer weiblicher wird, denn der soziale Fortschritt der Gleichstellung läutet das Ende der Demokratie ein. Die Macher in den Konzernen sitzen schon jetzt am längeren Hebel – wäre es anders, wären diese Menschen woanders.“
Naomi Kutscher pflichtete ihr energisch bei: „In dieser Stadt sollte ein Jahr lang alles umgekehrt sein: Die Putzfrau, die nur albanisch aber kein Wort deutsch versteht, wird Bürgermeisterin; der alte Bürgermeister hält mit seiner Harke die Parks sauber.“
Die Frauen auf diesen Treffen sind manchmal merkwürdig, dachte Mardo. Sie kopieren die Männer in ihrem Verhalten. Sie glauben, sie wären die neue Frau, aber sie sind einfach nur wie die alten Kerle: selbstgerecht und lautstark. Manche waren wie Karikaturen der alten Machos. Andere wiederum gefielen sich in der Rolle des moraltriefenden Klageweibs und spielten die wandelnde Mahnwache. Oft hießen sie Frauke, Dörte oder hatten ganz allgemein eine schwere Montessori-Kindheit hinter sich. Auch ihre Hemden fand er seltsam. Warum wollen Holzfäller eigentlich immer aussehen wie Grunge-Musiker oder Lesben?
„Lasst uns über die Faschos reden“, unterbrach ein zottelbärtiger junger Mann die Gender-Debatte. „Viele von uns sitzen gerade in den Folterkellern der Bullen. Wir müssen was unternehmen!“
„Wir planen sofort eine neue Demo. Diesmal in Niederschöneweide und dann geht es nach Marzahn. Wir stöbern die Nazi-Brut in ihren Nestern auf“, rief Vanessa Schäfer.
Dann diskutierten sie, was auf den Transparenten stehen sollte.
„Alle Menschen auf die Beine/gegen die Faschistenschweine“, schlug die schöne Ludmilla vor und blickte mit einem erwartungsvollen Lächeln in die Runde.
„Ist die Formulierung ‚auf die Beine’ nicht irgendwie behindertenfeindlich?“ Diese Frage stellte Rebecca Riedle vom „Arbeitskreis Pränatale Musikerziehung“.
„Ist ein Transparent nicht irgendwie blindenfeindlich?“ Das war Marek, der gerade den Raum betreten haben musste. Er erntete allgemeines Gelächter.
Die Beschriftung des Transparents wurde per Handzeichen beschlossen und Ludmilla strahlte Marek dankbar an.
„Schön, dass du da bist, Marek. Wir dachten schon, sie hätten dich auch verhaftet.“
„Ich freue mich auch“, sagte Marek und setzte sich neben Mardo.
„Wo ist eigentlich Magnus, der Nihilist?“
„Den haben sie bestimmt auch“, rief jemand dazwischen.
„Zurück zur Tagesordnung“, sagte Sabrina Rossbach streng. „Was unternehmen wir gegen die Nazis, die uns angegriffen haben?“
Dann ging die Debatte weiter und Mardo begann sich zu langweilen. Würde er hier einen Hinweis auf den Mörder von Altmann finden? Bei diesen Plaudertanten? Früher hieß es einmal: Wenn sich zwei Deutsche treffen, gründen sie einen Verein. Denn der Deutsche, insbesondere der Preuße liebte die Ordnung und legte gerne selbst mit Hand an. Alsbald blühten die Tages- und Geschäftsordnungen, über Weg und Ziel wurde streng nach Protokoll debattiert. Das Protokoll landete in einem Aktenordner, für deren Ordnung wiederum Erste und Zweite Vorsitzende, Geschäftsführer und Kassenwarte sorgen durften. Es schien tief im Wesen des Deutschen verankert zu sein, das Gewusel des echten Lebens um ihn herum zu sortieren, zu katalogisieren, zu prüfen, zu bewerten und schließlich seinem pädagogischen Impetus freien Lauf zu lassen. Schließlich war der deutsche Vereinsmeier nicht nur ein Ordnungshüter, sondern auch ein Lehrmeister. Er musste es schließlich wissen, er war ja in einem Verein. Der deutsche Vereinsmeier brauchte seine Bezugsgruppe, denn er fühlte sich nur in der Gruppe stark. Aus dem Schutz der Meute kläffte er dann all die ahnungslosen Laien an, die gar nicht wussten, wovon sie reden. Sonst wären sie ja in einem Verein. Aus Sicht der Vereinsmeier war der unorganisierte Bürger ein Wilder, ein noch zu zähmender Eingeborener, ein vorläufig noch verlorener, aber doch zu missionierender Vereinsloser.
Eine neuere Variante des teutonischen Vereinslebens war die Bürgerinitiative: Alles blieb beim Alten, klang aber modern und nicht so spießig wie Verein. Zur Sicherheit hat die Bürgerinitiative aber noch ein „e.V.“ hinten dran hängen. Wegen der Steuer und wegen der deutschen Gründlichkeit. Das hatten sie schließlich schon immer so gemacht. Was den linksalternativen vom altpreußischen Verein unterschied, war nicht die arrogante Eitelkeit der selbstverliebten Schwätzer, von denen er im Regelfall geleitet wird, oder die kleinkarierte Korinthenkackerei um Geschäftsordnungsänderungsvorschläge oder die Rechtschreibung im Protokoll, sondern die Paranoia und die Schizophrenie, die ihn vom Gründungstag an begleitet hatte. Der linksalternative Vereinsmeier gab sich gerne staatskritisch und hielt sich, vermutlich aufgrund der hochbrisanten Vereinsziele, für einen verkappten Guerillakämpfer, der eigentlich schon mit einem Bein im Untergrund stand. Kritiker seines Vereins waren daher logischerweise automatisch Bullenspitzel oder bezahlte Schergen des kapitalistischen Regimes, denen es mit Aggression und Misstrauen zu begegnen galt. Statt nun aber diese Paranoia konsequent auszuleben und den verfluchten Ausbeuterstaat mit allen Mitteln zu bekämpfen, wurden Steuerprivilegien und Fördermittel erbettelt. Der Staat sollte gefälligst die Mittel zur Verfügung stellen, wenn nach alter Väter Sitte zur Jahreshauptversammlung der „Bürgerinitiative zum Sturz der imperialistischen Weltordnung“ ins Hinterzimmer eingeladen wurde. In Deutschland gab es sogar einen „Förderverein zur Erforschung des Messi-Syndroms e.V.“, also einen Verein der Organisationsunfähigen. Was wäre die Welt schließlich ohne Ordnung?
Jetzt redete der zottelbärtige Mann wieder: „Wir sollten den Nazis die Autos anzünden! Die haben doch bestimmt Aufkleber in Schwarz-Weiß-Rot oder mit Frakturschrift. Daran kann man sie erkennen. Wir müssen zurück schlagen!“ Beim letzten Satz hatte er die Faust erhoben und zu Ludmilla hinüber geschaut.
Mardo fragte Marek leise: „Wer ist eigentlich dieser zottelbärtige Typ mit der Bauernkriegsfrisur, der immer so große Reden schwingt?“
„Du meinst diese Mischung aus Yeti und Altkleidersammlung? Das ist Elias. Der wohnt in Neukölln.“
„Kennst du ihn näher?“
„Nein. Von diesen Typen gibt es in Kreuzkölln eine Million. Aber er steht auf Ludmilla und hat ihr garantiert schon seine Handy-Nummer gegeben. Und bei Twitter gehört er sicher zu den Followern der Berliner Antifa. Da werden auch immer die neuen Treffpunkte bekannt gegeben.“
Da hatte Marek Recht. In Kreuzberg hatte Mardo im vergangenen Sommer einen Vater gesehen, der an einer Hauswand seinen Söhnen beigebracht hatte, wie man Graffiti sprayt. Das gab es nur in SO 36, im Wedding waren die Leute irgendwie normal – jedenfalls für Berliner Verhältnisse. „Das ist aber leichtsinnig. Da könnte doch jeder hier aufkreuzen.“
„Die Nazi-Schläger sind doch viel zu blöd zum twittern“, murmelte Marek, während er auf seinem Handy herumtippte. „Ich schicke Ludmilla nur kurz eine SMS.“
Mardo lauschte weiter der Debatte. Es ging gerade um Orientierung. Hatte das eigentlich etwas mit dem Orient zu tun? Mardo hatte bei vielen Begriffen der recht gegenständlichen deutschen Sprache seine eigenen Assoziationen, besonders schlimm fand er das Wort „Ausscheidungswettkampf“.
Ein leises Piepsen kündigte die Antwort an. „Da habe ich seine Nummer. Elias Merck heißt der Typ. Ich schick sie dir auf dein Handy.“
„Danke“.
Eine endlose Stunde später war die Diskussion zu Ende und alle verabschiedeten sich. Die Aufgaben waren verteilt, Termine waren gemacht, die nahe Zukunft schien geordnet.
„Kannst du mir dein Fahrrad leihen?“ fragte Mardo seinen Freund.
„Seit wann bist du denn so sportlich?“ fragte Marek grinsend zurück.
Mardo antwortete nicht und grinste nur. Marek wusste, dass er keine weiteren Fragen stellen sollte. Bei einem Bier würde ihm sein Kumpel in den nächsten Tagen schon alles erzählen. Sicher eine hochgeheime Ermittlung in Sachen Brandstifter.
Da hatte Marek Recht. Mardo hatte von Kommissar Leber erfahren, dass die Polizei von einem Täter ausging, der mit einem Fahrrad unterwegs war. Das ergab sich aus den zeitlichen und räumlichen Abständen der brennenden Fahrzeuge. Auf dem Stadtplan entstanden jede Nacht regelrechte Lichterketten, die für einen Fußgänger nicht machbar gewesen wären. Mit dem Auto jedes Mal anzuhalten, auszusteigen und einen Brand zu legen – das wäre zu auffällig gewesen. Und einen Radfahrer verfolgte man am besten auf dem Fahrrad. Zu Fuß wäre Mardo zu langsam gewesen und mit einem Auto hätte jeder Blinde die Verfolgung bemerkt.
Als Elias Merck sich auf sein Rennrad schwang, fummelte Mardo noch am Schloss von Mareks altersschwachem Hollandrad herum. Merck trug eine schwarze Kapuzenjacke und eine olivgrün und braun gepunktete Camouflage-Hose. An der Kreuzung Goltzstraße und Grunewaldstraße bog er nach links ab.
Sie kamen am Kleistpark vorüber, der von einem wuchtigen wilhelminischen Bau beherrscht wurde. Er beherbergte im Dritten Reich den fürchterlichen Volksgerichtshof, später wurde er von der Alliierten Kommandantur genutzt. An der Kreuzung Potsdamer lag die ebenso protzige und düstere BVG-Zentrale, in der früher einmal die Reichsautobahnverwaltung untergebracht war. Mardo erinnerte sich, dass er hier einmal zehn Euro Strafe zu bezahlen hatte, weil er bei einer U-Bahn-Fahrt seine Monatskarte vergessen hatte. Auf der Monumentenbrücke überquerten sie die Bahngleise. Im Hintergrund sah man die erleuchtete Silhouette des Potsdamer Platzes und den Fernsehturm am Alex. Bei der Fahrt durch Kreuzberg, auf der Bergmannstraße und der Hasenheide, wurde Mardo langsam müde. Als Merck am Hermannplatz nach rechts abbog, hätte er ihn fast verloren. Hier war der Schillerkiez, wo Mardo bereits am Tag zuvor bei einer Versammlung der linken Szene gewesen war.
Als Merck sein Fahrrad an der Okerstraße an einer Laterne geschlossen hatte und auf die Haustür zuging, war Mardo fast schon wieder bei ihm. Er fuhr einfach weiter, ohne sich noch einmal umzusehen. Jetzt hatte er auch eine Adresse. Hundert Meter weiter stieg er vom Rad und stellte es an einem Fahrradständer vor einem geschlossenen Kiosk ab. Sein Rücken war klatschnass geschwitzt und seine Hände zitterten. Er sollte mit Julia mal wieder eine Radtour machen, seine mangelnde Fitness erstaunte ihn selbst. Hatte ihn das kurze Berufsleben als Gastwirt bereits träge gemacht?

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