Sonntag, 31. August 2014

Im Zeitalter der Hochgeschwindigkeit

Es ist erstaunlich, wie sich innerhalb meiner Lebenszeit der Alltag in Deutschland verändert hat. Hat sich jemals innerhalb so kurzer Zeit so viel ereignet? In meiner Generation gibt es noch viele Menschen, die sind mit Kühen, Schweinen und Hühnern aufgewachsen. Im Garten hatte man Obst und Gemüse, das im Keller und in Einmachgläsern noch den ganzen Winter über aufbewahrt und langsam verzehrt wurde. Und als die ersten „Supermärkte“ aufmachten, sind manche von uns als Kind auf einem Traktor den weiten Weg gefahren, um sich dieses Wunder einmal aus der Nähe anzuschauen. Wer hatte damals schon ein Auto? Niemand ist in Urlaub gefahren, man verbrachte jede Nacht in seinem eigenen Bett oder ausnahmsweise bei Verwandten im Nachbardorf. Selbst in Berlin war es bis in die sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts normal, im Hinterhof eigenes Vieh oder Hühner auf dem Balkon für den persönlichen Bedarf an Milch, Eiern und Fleisch zu halten. Heute arbeitet fast niemand mehr in der Landwirtschaft, es gibt völlig neue Berufe, die für die Kinder des 21. Jahrhunderts selbstverständlich sind und nichts mehr mit der Welt vor unserem Fenster zu tun haben. Innerhalb weniger Jahrzehnte sind wir in eine völlig neue Epoche katapultiert worden. Den letzten Rest von Natur erleben wir in Form von Topfpflanzen, Haustieren und gelegentlichen Ausflügen in sogenannte „Naherholungsgebiete“. Und auf jeder Plastikverpackung im Supermarkt steht irgendwas mit „Bio“ oder „Natürlich“.
Vielleicht werde ich eines Tages als alter Mann einer jungen Krankenschwester oder einem erstaunten Pfleger meine Geschichte erzählen. Wie es war, als es noch kein Internet und kein Smartphone gab. Als es nur drei Fernsehprogramme gab und die meiste Zeit des Tages (von Mitternacht bis zum Nachmittag) nur das Testbild zu sehen war. Als man mit der Großmutter Gemüse säte und erntete, die Frühstückseier aus dem Hühnerstall holte und vor dem Mittagessen Kartoffeln schälte. Als man noch dabei war, wenn die eigenen Schafe ihre Lämmer bekamen. Ich gehöre vermutlich zur letzten Generation, die noch ein Telegramm erhalten hat. Damals bin ich in eine neue Wohnung in Berlin gezogen und man wartete wochenlang auf seinen Telefonanschluss (schließlich brauchte zu dieser Zeit die ganze ehemalige DDR Telefonanschlüsse). Telefone waren damals noch mit einem Telefonkabel versehen, das in einer Buchse an der Zimmerwand endete. Das Telefonieren auf der Straße oder im Auto war unmöglich. Nur sehr reiche Menschen hatten ein Autotelefon, die anderen begnügten sich mit Attrappen, mit denen man an der roten Ampel fremde Menschen beeindrucken konnte. Drahtlos telefonierte eigentlich nur die Polizei, die sogenannte „Funkgeräte“ oder „Walkie-Talkies“ besaß. Ein Telegramm ist übrigens ein Brief, der telegrafisch übermittelt und noch am selben Tag von einem Eilboten überbracht wird. Jedes einzelne Wort kostet eine bestimmte Summe, weswegen Telegramme im Regelfall ziemlich kurz sind.
Ich erinnere mich an meinen Zivildienst 1986/87. Ich betreute Frau Theis, die in Siebenbürgen bzw. Transsilvanien im heutigen Rumänien aufgewachsen ist. Sie war Jahrgang 1898 und erzählte mir beispielsweise von ihrer eigenen Großmutter, die Mitte des 19. Jahrhunderts in den Krimkrieg geriet und eine Choleraepidemie überlebte. Bei der Suche nach ihrem Mann übernachtete sie auf einer Parkbank und als sie am nächsten Morgen aufwachte, lagen um sie herum lauter Leichen. Ich fragte Frau Theis nach ihrem Alltag als junges Mädchen, schließlich gab es damals noch keine Diskotheken, Stereoanlagen und all die anderen Dinge, die mein Leben in Ingelheim damals prägten. Sie erzählte mir von dem Bauernhof, auf dem sie aufgewachsen war, von der Arbeit auf den Feldern. Zwölf Stunden arbeitete sie damals am Tag, abends ging sie mit den Gleichaltrigen des Hofes oder der Nachbarhöfe spazieren und sie sangen zusammen Lieder. Nachts hat man vielleicht mal einen Roman gelesen – was damals schon als sehr verrucht galt. Ein Erntedankfest oder eine Kirmes in einem nahe gelegenen Dorf waren schon ein Höhepunkt des Teenagerlebens.
The Shirelles – Will You Still Love Me Tomorrow. http://www.youtube.com/watch?v=3irmBv8h4Tw

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