Mittwoch, 20. August 2014

Herr Blumfeld

Es gibt in der Menschenwelt verschiedene Wege, langsam unglücklich zu werden und schließlich zu sterben. Blumfeld schleppte seinen welkenden Leib in den vierten Stock. Auf halber Strecke blieb er schnaufend stehen, zückte ein Stofftaschentuch und wischte sich den Schweiß aus dem Nacken. Geduldig wartete einige Meter über seinem Kopf die leere Wohnung auf seine Ankunft, sonst wartete niemand. Er war inzwischen sechsundsechzig Jahre alt und wunderte sich über sein Alter. Die letzten zwanzig Jahre waren eigentlich so schnell an ihm vorbei gerast, dass er kaum einen Blick auf ihren Ablauf werfen konnte. Der Sommer flog vorbei, ein paar nasskalte Tage und schon war wieder Weihnachten. Die Zeit wirbelte wie die Schneeflocken vor seinem Dachfenster, denn auch Feiertage und seine Geburtstage unterbrachen die Routine und die Monotonie seines Alltags nicht. Er war immer allein, er mochte seinen Geburtstag nicht und hatte auch früher niemals das Datum verraten, um nicht unangenehm von den Nachbarn oder Kollegen überrascht zu werden. Er stand nicht gerne im Mittelpunkt, er mochte den Schatten, die dämmrigen Plätze am Rande des Geschehens und beobachtete in Ruhe, ohne in etwas hinein gezogen werden zu können. Tagsüber bestimmte die Arbeit seinen Rhythmus, am Abend genoss er die Einsamkeit. In Berlin begegneten ihm jeden Tag genug Menschen, er war froh, wenn er abends die Wohnungstür hinter sich schließen konnte. Dann bestimmte die Stille seinen Rhythmus. Nur gedämpft klangen die ewig gleichen Geräusche der Stadt zu ihm hinauf.
Jeden Donnerstag kam seine polnische Putzfrau und am Abend konnte er sich an einer blitzblanken Wohnung erfreuen. Jeder benutzte Löffel lag wieder sauber im Besteckkasten, das Bett war frisch bezogen. Ein wunderbares Gefühl, sich in einem frisch bezogenen Bett zu dehnen und zu strecken, wohlig vom Duft der Sauberkeit betäubt. Im Bad standen Zahnpasta- und Rasierschaumtuben, Seifenschale und Wasserglas in geradezu militärischer Ordnung. Alles war sortiert, an seinem Platz und lag im rechten Winkel zur Tischkante. Die ordentliche Wohnung gab ihm nicht nur ein Gefühl der Behaglichkeit, sondern auch das Selbstbewusstsein, das Leben im Griff zu haben. Ein älterer Junggeselle, der niemandem zur Last fiel, niemandem Rechenschaft ablegen musste, Rechnungen und Steuern pünktlich bezahlte und im Hause als Inbegriff der Rechtschaffenheit galt. Zumindest glaubte er das.
Blumfeld dachte an die Zeiten seines Berufslebens zurück. So unschuldig wie kleine Kinder, die einen Hamster totspielen, hatten ihn seine neuen Kollegen nach der Wende 1989 zerstört. Er war einfach ein farbloser Schwächling und damit prädestiniert für diese Außenseiterrolle. Jede Gruppe braucht ein Omega-Tierchen, vor allem eine Gruppe westdeutscher Herrenmenschen. Er hatte seine Kindheit auf einem Bauernhof verlebt, Reden war nie seine Stärke gewesen. Felder und Tiere reden nicht, man lernt im Laufe der Jahre vielmehr, die Dinge intuitiv zu erkennen. Man erkennt den Anlass, begreift den Grund, etwas zu tun, ohne darüber nutzlose Worte zu verlieren. In seinem Beruf in der Verwaltung war das bisher nie ein Problem gewesen, aber Geschnatter und Schauspielkunst waren nun einmal elementare Bestandteile der westlichen Arbeitswelt. Ständig irgendwelche Sitzungen, ständig wurden die Pläne wieder geändert. Flexibilität nannte man diese Form der Unentschlossenheit. Aber er hatte Rache am System genommen. Er hatte eine neue Stelle als Geschäftsführer einer kleinen Werbeagentur in Reinickendorf gefunden, die Übernahme hatte ihn zwar seine Abfindung gekostet, aber er war nun Herr über hundert Grafiker, Texter und Prospektverteiler. Als die Agentur groß genug geworden war, hatte er sie verkauft, blieb aber als Geschäftsführer im Amt. Der westdeutsche Besitzer hatte sich auf die Gewinne des neuerworbenen Goldesels gefreut, aber Blumfeld führte den Laden systematisch in die Pleite. Als ein Kredit notwendig wurde, den die Bank verweigerte, bestand er auf die vertraglich festgelegte Abfindung. Der Investor gab auf und hundert Wessis verloren auf einen Schlag ihren Job. Er konnte sich noch gut an die Betriebsversammlung erinnern, an die Unruhe und die Spannung im Saal.
„Herr Blumfeld, das können sie doch nicht machen.“
„Denken Sie an Ihre Kollegen. Wir leben in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit.“
„Sie nehmen den Menschen Ihre Zukunft.“
„Denken Sie doch auch mal an unsere Kinder.“
Aber er war hart geblieben. Ein ganz persönlicher Sieg im Kampf der Systeme. Nun hatte der Rentner Blumfeld ausgesorgt und lebte am Prager Platz.
Am Wochenende trug Blumfeld immer Freizeitkleidung. Eine hellgraue Windjacke, eine ockerfarbene Cordhose und dunkelbraune Lederschuhe. Das fliehende Kinn und die fliehende Stirn gaben ihm das Profil eines Karpfens. Seine Zähne waren so gelb, dass sie sicherlich das Interesse von Elfenbeinhändlern geweckt hätten. Jeden Sonntagmorgen um acht Uhr spazierte er über Friedenau und Dahlem in den Grunewald, umrundete die Krumme Lanke und ging über Schmargendorf und den alten Wilmersdorfer Dorfkern, die Wilhelmsaue, wieder zurück. Zuvor aß er einen Joghurt, putzte sich die Zähne und fuhr sich mit seinen kleinen feuchten Händen kurz durch das lichte Haar. Am frühen Morgen waren die Bürgersteige und Straßen nahezu leer, verspätete Nachtbummler waren hier nicht zu erwarten. Die Luft wehte frisch durch die noch unbefleckte Stille des Morgens. Amseln beäugten ihn aus dem Gebüsch, riesige Krähen saßen auf Parkbänken. Im Wald dann Männer unbestimmten Alters mit Hunden und joggende Frauen. Manchmal sah er eines der Eichhörnchen, die er sehr mochte. Putzige und fidele Burschen, immer munter, voller Neugier auf die Welt. Und trotzdem so schweigsam wie er selbst. Blumfelds Schweigen war bescheiden. Es gibt ja Leute, die ganz bedeutungsvoll schweigen können, dachte er. Bis man merkt, dass ihr Schweigen gar keine Bedeutung hat. Sein eigenes Schweigen sollte nichts ausdrücken. Er war weder verbittert noch schockiert von seinen Lebenserfahrungen. Eigentlich gab es kaum etwas zu berichten. Sein Schweigen war höfliche Zurückhaltung, er ließ der ganzen Welt mit einem winzigen Lächeln Vortritt. Ein stiller und zufriedener Beobachter der Dinge und Vorgänge. Und so ging er durch die Straßen und den Wald, alles war zu seinem vollständigen Wohlbehagen eingerichtet, sämtliche Umstände tadellos. Man konnte wirklich nicht meckern.
Nach seinem Ausflug fuhr Blumfeld gewöhnlich in ein tschechisches Restaurant an der Karl-Marx-Allee und aß dort zu Mittag. Ganz besonders mochte er Knödel, die böhmischen Knedliky. Schweinebraten und Gulasch mit schmackhaften Soßen und Mährisch Kraut. Kümmel, Majoran, Liebstöckel. Deutsches Sauerkraut mochte er nicht, auch das Berliner Eisbein nicht. Überhaupt war die hiesige Küchentradition nicht sein Fall. Das „Berliner Schnitzel“ galt ihm als Paradebeispiel für die Minderwertigkeit der preußischen Küche: Kuheuter wird mit Lauch und Zwiebeln gekocht, danach gehäutet, in Scheiben geschnitten und paniert. Widerlich! Aber böhmische Speisen waren ein Genuss, gefüllte Rinderrouladen („Spanische Vöglein“) und Sauerbraten mit Sahnesoße und Preiselbeeren. Dann gab es rätselhafte Speisen wie Topfenhaluschka, die er noch nie probiert hatte. Vor allem die Nachspeisen waren eine wahre Pracht, Marillenknödeln und Buchteln. Dazu ein kühles Prager oder Pilsener Bier mit feiner Schaumkrone. Und hinterher einen Becherovka, ein Kräuterschnäpschen zur Verdauung. Becherovka, das klang so, als könne man nach dem Öffnen der Flasche den Deckel im Prinzip gleich weg werfen. Heute wollte sich Blumfeld, der Mann mit dem ungewissen Etwas, aber etwas ganz Besonderes gönnen und bestellte Kalbshaxe Florida.
An diesem Sonntag war die „Prager Hopfenstube“ etwa zur Hälfte gefüllt. Der Himmel wirkte schwer und grau wie Beton. Unberechenbare Sturmböen hatten den älteren Herren förmlich hineingeweht. Blumfeld war zunächst wie benommen, lange dauerte es, bis er mit der Umständlichkeit eines greisen Apothekers seinen Mantel an einen Haken gehängt hatte. Das Anziehen des Mantels würde ihm später noch schwerer fallen, denn wie zuletzt in Kindheitstagen verschwand der zweite Mantelärmel auf geheimnisvolle Weise, wenn man hinter dem eigenen Rücken danach stocherte. Fast blind tastete er sich an einen der kleinen runden Tische und setzte sich auf den winzigen, zerbrechlich wirkenden Stuhl. Die junge Kellnerin wartete geduldig, bis er sich die Nase geputzt hatte und seine Umgebung wahrnehmen konnte. Seine Augen hatten die undefinierbare Farbe verwitterer Baumrinde, sein nervöser Tick meldete sich, ein zwanghaftes Zucken mit den Augenbrauen, mehrmals pro Minute. Mit dem Rücken zu einer der riesigen Fensterfronten saß ein junger Mann und notierte etwas in seinen weitläufig ausgebreiteten Unterlagen. Ein anderer junger Mann, ein paar Tische entfernt, beugte sich so tief über ein Magazin, dass es den Anschein hatte, er schliefe gleich darüber ein. Meditierte er oder schrieb er etwa auch? War er hier unter die Literaten gefallen? Auftritt Kellnerin: schmal, klein, völlig in schwarz gekleidet, ein wunderbares Lächeln, sie sah ihn beim Sprechen unentwegt an, das Augenweiß schimmernd wie Porzellan. Das änderte alles.
Blumfeld war gebürtiger Dresdner und sprach mit schwerem sächsischem Akzent, tief aus der Kehle heraus wie ein Truthahn: „Gänse mir dö Galbshöxe bringen, bidde. Unn ä größes Bier“. Ein Augenblick später hatte er immer noch ihr Bild vor den Augen, obwohl sie längst gegangen war. Die trockene Wärme des Gasthauses kroch mit leisen Schauern seinen Rücken hoch. Dann der honiggelb lockende Humpen, serviert mit filmmäßigem Zähneblitzen. Herausgetreten aus dem Sturm, aus der Welt, wie in einer dunklen Kirche geborgen, sicher, zeitlos. Dann kam sein Essen. Die Biersoße zum Gulasch war so unglaublich lecker, er hätte sich mit der Wange in den Teller hineinschmiegen können. Hier liegen bleiben, hier angekommen sein. Niemals mehr hinaus müssen, einfach bleiben, ewig versorgt mit Gulasch, Knödeln und Bier, ein Paradies – mit ausgezeichneten sanitären Anlagen, bequem auch mit der U-Bahn zu erreichen. Wenn er das alte Berlin erleben wollte, ging er am Sonntagmittag zum Essen ins „Wirtshaus zum Nussbaum“, ein gutbürgerliches Lokal am Bundesplatz. Die bis auf halbe Höhe mit Holz getäfelten und mit historischen Drucken geschmückten Wände vermittelten die sogenannte Gemütlichkeit des Vor-Ikea-Zeitalters. Der typische Berliner, der hier anzutreffen war, verfügte über einen Seehundschnauzbart, Halbglatze plus schlohweißen Haarkranz. Er aß Eisbein mit Erbspüree oder Kalbsleber mit Zwiebeln und trank dazu seine Molle, wie er das Bier zu nennen pflegte. Es gab jedoch auch herrlich altmodische Gerichte wie Rührei, Spinat und Kartoffeln auf der wechselnden Wochenkarte. Gelegentlich konnte man auch am Nachbartisch den Lebenserinnerungen eines Mannequins (so nannte man die Models früher) aus den fünfziger Jahren lauschen. Das Publikum bestand am Wochenende ohnehin fast ausschließlich aus reiferen Herrschaften.
Er ließ seinen Blick über die weiteren Gäste schweifen. Sein Stammplatz war neben dem schwarz lackierten Klavier, das wie ein frisch polierter Sarg glänzte. Von seinem Nachbarn Hopperflap hatte er vor einigen Jahren den Tipp erhalten, hier einmal zu speisen. Der Amerikaner war ganz verrückt nach Schnitzel und Bier. Schon für ein paar Euro bekam man in dieser Stadt vielerorts ein ordentliches Schnitzel mit Pommes und Salat serviert, so auch wochentags in der „Hopfenstube“. Der Osten der Republik ist zwar arm, aber eben auch preiswert. Da war der in die Jahre gekommene Rocker mit grauer Halbglatze und Schlangentätowierung. Oder die beiden älteren Damen mit den langen, platinblond gefärbten Haaren an ihrem Fensterplatz, deren Gesichter durch etliche Schönheitsoperationen entstellt waren. Sie mussten weit über fünfzig Jahre alt sein und wirkten wie Pornostars aus den Siebzigern. Nichts ist schlimmer als ein solches Gesicht, dessen letzte Modellierung Jahre zurück liegt. Die gelbliche Haut war wieder erschlafft und gealtert, aber es sah im Wortsinne unmenschlich aus. Sie wirkten gruselig, wie groteske Masken des Menschlichen. Die Falten und Wülste saßen an unnatürlichen Stellen in ihren grellbunt bemalten Gesichtern, dazu die wurstförmig aufgepumpten Lippen. Blumfeld musste an Zombies denken. Die Beine hatten sie in längst aus der Mode gekommene Karottenjeans gezwängt, an den verwelkten Armen klimperte Talmi und Tinnef in rauen Mengen. Dazu Brüste, die nichts Brustförmiges hatten, sondern wie angeschraubte Lampen wirkten. So saßen die beiden jeden Sonntag im Restaurant und warfen den Männern aufreizende Blicke zu, ein beschämendes würdeloses Schauspiel voller Tragik und Altersmelancholie. Aus den Lautsprechern erklangen, nein: plärrten die tschechischen Varianten alter Sinatra-Stücke, er verdächtigte Karel Gott der sprachlichen und stimmlichen Schändung dieses Liedguts. Aber in diesem Augenblick passte die schreckliche Musik zum Anblick der anwesenden Gäste.
Saß da nicht auch dieser junge Student, der mit zwei anderen Burschen in seinem Haus wohnte? Frau Gomolke hatte ihm von den lauten Feiern erzählt, die manchmal bis in die frühen Morgenstunden dauerten. Ob diese Typen je mit dem Studium fertig würden? Diese langhaarigen und ungepflegten Zottel würden es sicher einmal schwer haben, dachte er. Mit Arbeitsplatz und Rente. Lehrjahre sind keine Herrenjahre. Er hatte damals beim Studium der Chemie sicher auch mal fünfe gerade sein lassen, wenn er mit den Kommilitonen unterwegs war. Aber am nächsten Morgen ging es wieder um neun Uhr los, da wurde kein Schlendrian geduldet. Man hätte Ärger mit der Fakultät riskiert, wenn man seine Studien und seine Versuchsaufbauten vernachlässigt hätte. Geschadet hat ihm das nichts. Im späteren Leben hatte es ihm an nichts gemangelt. Arbeit fand er in Berlin, der Hauptstadt der DDR. Dank seiner aktiven Parteiarbeit hatte er eine Stelle in der „Staatlichen Planungskommission“, der zentralen Planbehörde bekommen. Er war für die chemische Industrie zuständig gewesen und besuchte gelegentlich die Provinz, Leuna, Schkopau oder Bitterfeld. Blumfeld erinnerte sich an das „Chemieprogramm“, das auf dem fünften Parteitag der SED beschlossen wurde. Motto: „Chemie gibt Brot, Wohlstand und Schönheit.“ Er fuhr damals einen Wartburg und in den späten siebziger Jahren war er in eine schöne Zweiraumwohnung im neu entstandenen Stadtteil Marzahn gezogen. Zum Urlaub durfte man ins sozialistische Ausland, an den Balaton in Ungarn. Er hatte alles, was er brauchte. Es gab viel Schönes in der DDR: die schönen Paradeuniformen der NVA, die beruhigende Langeweile der Aktuellen Kamera im abendlichen Fernsehprogramm und Karl Marx auf dem blauen Hundertmarkschein. Während im Kapitalismus kein Stein auf dem anderen blieb, war sein Leben wunderbar ruhig gewesen. Er freute sich über die Weltjugendjestspiele 1973 im ehemaligen Walter-Ulbricht-Stadion an der Chausseestraße, auf dessen Gelände heute der westdeutsche Geheimdienst seine neue Festung baute, über Sigmund Jähn, 1978 der erste deutsche Kosmonaut, all die schönen Treffen im Rahmen der „Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft“, deren Mitglied er war, die herrliche Olympiade 1980 in Moskau, ohne Amerikaner und andere Imperialisten und Revanchisten – und er freute sich über arrogante Westdeutsche aus dem „nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet“, die von den Kellnern seiner Stadt ignoriert und gegängelt wurden.
Blumfeld hängte den Mantel an den vorgesehenen Haken, als er wieder zu Hause angekommen war, und zog seine Hausjacke aus dunkelblauer Wolle an. Jeden Abend das gleiche Ritual. Dann las er die Zeitung. Mord, Krieg, zweite Bundesliga – Dinge, die die Welt nicht braucht. Das Böse wird nicht bestraft und das Gute wird nicht belohnt. Man entscheidet sich einfach für eine Seite. Und oft ist Feigheit das einzige Motiv für das Gute, dachte er. Aber man musste ja informiert sein. So wie früher, als er noch berufstätig geworden war. Damals gab es aber noch nicht die ganze neumodische Technik, von der sein sozialistisches Heimatland überumpelt worden war. Er hasste Computer, er hasste es, dass seine Arbeit mit einem Knopfdruck verschwunden war. Niemand konnte das tief empfundene Gefühl der Befriedigung nachvollziehen, wenn man einen Vorgang in einem Aktenordner abgeheftet oder ein korrekt ausgefülltes Formular in ein Fach gelegt hatte. Die Arbeit am Computer war unsichtbar, ließ sich mit den Fingerspitzen nicht fühlen, hatte keinen Geruch und keine Farbe. Ein Aktenstapel wurde im Laufe der Zeit kleiner und tröstete den Sachbearbeiter, der Computer war ein Fließband, das von Ewigkeit zu Ewigkeit zu rollen schien. Alles ohne Anfang und Ende. Nun lag dieser Teil des Lebens hinter ihm. Für die Zeit danach hatte er nie Pläne gemacht. Er hatte keine Kinder, Familie oder andere Verwandtschaft. Freunde hatte er auch keine. Er befasste sich inzwischen mit historischen Themen, sah sich Ausstellungen an und unternahm ausgedehnte Wanderungen durch die Stadt. Ob er sich die plastinierten Leichen der „Körperwelten“ in der Straße der Pariser Kommune am Ostbahnhof anschauen sollte, die ab Mai gezeigt wurden? Eigentlich hätte man die Exponate ja beerdigen sollen, es war in seinen Augen unmoralisch, tote Menschen für Geld zu präsentieren. Andererseits war die Atmosphäre in den Räumen der Ausstellung sicherlich sehr interessant. Die Menschen hatten ja heutzutage nichts mehr mit dem Tod zu tun. Auf dem Bauernhof seiner Kindheit war der Tod ein natürlicher und alltäglicher Bestandteil des Lebens gewesen. Und mit diesen Gedanken schlummerte er für ein Viertelstündchen ein, die Zeitung immer noch auf seinem Schoß ausgebreitet.
Es war ein seltsam dunkler Tag, an dem es gar nicht auffallen würde, wenn die Sonne endlich unterging. Er stand am Fenster und blickte lange auf dem leeren Hinterhof hinab. Die Haut seines Gesichts sah aus wie zerknittertes Papier. Später schaltete er den Fernsehapparat ein. In kurzen schmissigen Reportagen wurde über diverse Fußballspiele berichtet, Sprücheklopfereien wie „Er macht die Bude“ usw. bildeten den ärgerlichen Kern der Berichterstattung. Dieses Ich-geh-jeden-Samstag-auf-den-Sportplatz-Deutsch in den Medien und an den Kneipentresen, das man auf Sportplätzen aber nie hörte. Es erinnerte ihn an das Touristen-Berlinerisch, das aus der Siegessäule eine Goldelse machte, aus einem zentral gelegenen Brunnen den Wasserklops und aus einem Kulturhaus eine schwangere Auster. Kein Einheimischer benutzte diese Ausdrücke, vielmehr belächelte man im Stillen die Erfindungen der Springer-Presse. Die Bezeichnung Telespargel für den Fernsehturm am Alex war ein von den DDR-Offiziellen gewünschter Spitzname, der sich in der Praxis jedoch auch schon in der DDR nicht durchgesetzt hat. Aber in jeder Reisegruppe, die Berlin besuchte, gab es einen Besserwisser, der den Reiseleiter verbessern musste und diese Phantasiebegriffe wieder in die Welt setzte. Dröhnend fuhr ein Lastwagen vorüber, eine lockere Fensterscheibe protestierte klirrend und beruhigte sich wieder. Blumfeld schlief ein, ohne die Fernbedienung loszulassen.
Fleetwood Mac - Songbird. http://www.youtube.com/watch?v=wTi19MPOvDw

2 Kommentare:

  1. Große Klasse.
    (Hopperflap ist fast ein so toller Name für einen Ami wie Mr Hackensack^^)

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    1. Danke! Und Blumfeld ist eine Figur aus Kafkas Phantasiewelt.

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