Mittwoch, 27. August 2014

Die Klassengesellschaft des Todes

Wir gehen mit den Toten genauso um wie mit den Lebenden. Wir sortieren sie, wir klassifizieren sie, wir heften sie in unterschiedlichen Aktenordnern ab. Es beginnt mit der Nationalität: Als bei einem Erdbeben in Haiti 2010 über 300.000 Menschen ums Leben kamen, wurde berichtet, es seien auch drei Deutsche unter den Opfern. Über sie wurde namentlich berichtet, der Rest ist ein anonymer Leichenberg irgendwo in der Dritten Welt, wo man nicht einmal Urlaub machen kann, weil die Einheimischen offenbar nicht so unterwürfig oder geschäftstüchtig sind wie in der benachbarten Dominikanischen Republik. Arisches Blut wurde vergossen! Wie geht es den Angehörigen? Werden sie psychologisch betreut? Weitere 300.000 Menschen wurden damals in Haiti zum Teil schwer verletzt, mehr als 1,8 Millionen Menschen verloren ihr Zuhause. Wir haben sie einfach vergessen. Das ist die biologistische, rassistische, nationalistische Variante unserer Klassengesellschaft. Und natürlich klassifizieren wir die Toten nach ihrem Bekanntheitsgrad: Ein milliardenschwerer Industrieboss oder ein hoher Politiker schaffen es mit ihrem Tod auf die Titelseite – ich nicht. Sie auch nicht. Noch im Tod gehören wir unterschiedlichen Klassen an.
Aber es gibt auch noch eine perzeptive, kognitive Variante dieser Klassengesellschaft des Todes, die kaum Beachtung findet. Es kommt darauf an, wie ein Mensch stirbt. Ein gewaltsamer, ein ungewöhnlicher oder ein sehr schmerzhafter Tod erregen unsere Aufmerksamkeit und findet unser Interesse. Tote bei Gewaltverbrechen sind im Fokus: In Deutschland gab es im Jahr 2013 gerade einmal 282 Mordopfer (im Jahr 2000 waren es übrigens noch 497), aber Mord ist ein Dauerbrenner in den Medien. Andererseits gab es etwa 10.000 Selbstmorde. Sind wir uns selbst der größte Feind? Außerdem sterben jährlich in Deutschland 70.000 Menschen an Alkohol und 110.000 Menschen an Zigaretten ... Aber wer will das wissen? Auch Tote im Krieg können sich einer wesentlich größeren Aufmerksamkeit gewiss sein, denn Krieg ist Massenmord. Hundert Kriegstote an einem Tag? Schlagzeile, das kommt auf Seite 1. Unser Raubtierblick sieht die Toten durch Schusswaffen und Raketen, die bunten Explosionen und die blitzenden Mordwaffen viel deutlicher als andere Tote. Angeheizt wird dieser Blick durch die Snuff-Videos aus den Kriegsgebieten, die uns im Internet den schrecklichen Tod näher bringen als in allen Kriegen zuvor. Stellen Sie sich vor, ein deutscher Landser hätte im Zweiten Weltkrieg mit einem Smartphone gefilmt, wie seine christlich getauften Kameraden die Christen eines russischen Dorfes zusammentreiben und sie alle in der Dorfkirche einsperren. Dann wird diese Kirche angezündet und wir hören minutenlang die entsetzlichen Schreie der sterbenden Männer, Frauen und Kinder. So erzeugt man Aufmerksamkeit.
Während wir über den Krieg sprechen und in unseren bequemen Wohnzimmersesseln darüber nachdenken, ob Deutschland sich mit Waffenlieferungen daran beteiligen soll, sterben lautlos und unbemerkt wesentlich mehr Menschen, als wir uns vorstellen können. Weil wir sie nicht wahrnehmen, weil die Medien nicht über sie berichten, weil ihr Tod nicht so spektakulär, nichtsdestotrotz aber viel grausamer als jede Enthauptung ist. In jeder Stunde verhungern tausend Menschen auf dieser Welt. 8,8 Millionen Menschen pro Jahr. So viele Menschenleben hat der Erste Weltkrieg gefordert. Aber sie entgehen unserem sensationslüsternen Raubtierblick. Keine Explosionen, keine Verfolgungsjagden, keine Deutschen unter den Opfern. Noch nicht einmal medienwirksame Gräberfelder, denn den Eltern und Angehörigen fehlt das Geld für eine würdige Bestattung. Das wäre die Front, an der zu kämpfen wäre: Ungleichheit, Armut, Hunger, Krankheit. Und an dieser Front brauchen die Helden auch keinen Stahlhelm.
P.S.: Der einzelne Mensch kann so nett sein. Aber sobald eine kritische Masse erreicht wird, verwandelt sich die Gattung Mensch in einen Haufen Arschlöcher. Das habe ich noch nie verstanden. Kann mir da jemand helfen?
Carolyne Mas – Sittin In the Dark. https://www.youtube.com/watch?v=9_ydQHaU3cM
Dieser Text wurde Ihnen präsentiert von Heckler & Koch, offizieller Partner des Krieges.

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