Montag, 22. Januar 2024

Lecko mio

 

Blogstuff 912

Die großen Demonstrationen gegen den Rechtsextremismus haben mich überrascht. Ich hätte nicht gedacht, dass hunderttausende Menschen, die man sonst der schweigenden Mehrheit zurechnet, den Mund aufmachen und auf die Straße gehen. Interessant sind auch die Reaktionen ihrer Gegner. Vor allem die Diktaturverherrlicher und AfD-Versteher, die vor Jahren noch in Kleinbloggersdorf ihrem obskuren Vulgärmarxismus frönten, kommen plötzlich aus ihren Löchern gekrochen und agitieren offen gegen den Antifaschismus. Die Rechte ist offenbar nicht nur ein Sammelbecken für Wutbürger, sondern auch für linke Renegaten.  

Ich habe mich in den letzten Wochen mit der Geschichte der frühen Neuzeit befasst (Wolfgang Behringer: Der große Aufbruch). Wenn man ausnahmsweise mal seinen historischen Horizont erweitert, merkt man erst, in welch bedeutungsloser Zeit wir leben. Wer nur in der Gegenwart verharrt, glaubt, jede Woche würde etwas Weltbewegendes passieren oder eine neue Epoche würde beginnen. Das ist nicht der Fall. Was ist im 21. Jahrhundert passiert? 9/11? Dreitausend Tote bei einem Terroranschlag. So what? Auf der Wilhelm Gustloff sind 1945 mehr Menschen gestorben. Die Kriege im Irak oder in der Ukraine? Regionale Konflikte, die uns nicht interessieren müssen. Corona? Etwa ein Promille der Weltbevölkerung ist daran gestorben. Peanuts im Vergleich zu Pest, Pocken und Cholera in der Vergangenheit. Es hat auch in diesem Jahrhundert noch keine einzige bahnbrechende Erfindung wie Lokomotive, Auto, Flugzeug, Mondrakete, Computer oder Internet gegeben. Wenn im Schulunterricht des 23. Jahrhunderts mal die KI den Cyborgs erzählt, welche markanten Punkte die Menschheitsgeschichte hatte, wird das 21. Jahrhundert gar nicht vorkommen.

Seit über fünfzig Jahren wird gegendert. Es begann mit „mensch“ und „frau“ statt „man“. Als ich in den Achtzigern anfing, Sozialwissenschaften zu studieren, war das Old-School-Gendern angesagt. „Ärztinnen und Ärzte“ zum Beispiel oder „Studentinnen und Studenten“ statt „Studierende“, wie es später Usus wurde. Was hat es den Frauen gebracht? Welche Fortschritte hat die Frauenbewegung zu verzeichnen? Sprache mag ein bevorzugtes Feld der Frauen sein, aber es geht in der Gesellschaft nun mal um Macht und Geld. Auf diesen beiden entscheidenden Feldern hat es keine nennenswerten Fortschritte gegeben. So lasst uns denn ein Sternchen malen.

Als ich meine Ghandi-Biographie beim Suhrkamp-Verlag abgeliefert hatte, monierte die Lektorin, ich hätte Ghandi zu positiv dargestellt, er hätte doch die Teilung Indiens nicht verhindern können. Da musste ich der Germanistin Nachhilfeunterricht geben. Vor der britischen Kolonialherrschaft war der indische Subkontinent, der dreimal so viele Einwohner wie Europa hat und in dem es 700 Sprachen gibt, in seiner jahrtausendelangen Geschichte nie geeint gewesen. Und selbst unter den Briten gab es 565 Fürstentümer, die von Maharadschas regiert wurden und etwa die Hälfte Indiens ausmachten. Somit war der Zerfall in nur zwei Staaten (Bangladesch wurde erst in den Siebzigern unabhängig) ein großer Erfolg. Die Maharadschas wurden entmachtet und ihre Fürstentümer in den Zentralstaat bzw. die Provinzen eingegliedert. So weit hat es das wesentlich kleinere Europa nie geschafft. Ich musste im Manuskript nichts ändern.

6 Kommentare:

  1. Zum Thema Gendern: In der Schweiz sagt man in der Mundart statt "man" so: "mer"
    Das "mer" stammt meines Erachtens nicht von "Mann", sondern von "wir" ab.
    Ich vermute, dass das "man" auch in deutschen Dialekten nicht von "Mann", sondern von "wir" abstammt. Das progressiv-studentische "mensch" und "frau" basiert also auf einem Irrtum, finde ich.
    Jutta Ditfurth schreibt noch heute immer "mensch".

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    1. Beispiele:
      "Wir gehen nach Basel" - "Mer gönd uf Basel"
      "Wir haben Durst" - "Mer händ Dorscht"
      "Man stiehlt nicht" - "Mer stehlt ned"
      "Wenn man aufsteht..." - "Wemmer ufstoht"

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  2. Die goldene Gurke der Genderverweigerer: "LandsMÄNNIN!" Ich lach mich scheckig. Ich habe eine Männin geheiratet.

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    1. "Landsmännin" scheint es ihm wirklich angetan zu haben...
      https://exportabel.wordpress.com/2020/04/15/liebe-r-antisemantin-von-der-seuche-gendersprache/#comment-20098

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    2. Man beachte auch, wo er ein paar Minuten vorher kommentiert hatte.

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  3. Meine 50 Cent:
    Das hier gerade eine politische Simulation stattfindet, kann man alleine daran erkennen, dass jahrzehntelanger konsequenter Antifaschismus in diesem Land kriminalisiert und als "Extremismus" diffamiert wird.

    Protest und Widerstand sind zwei völlig verschiedene Dinge. Protest ist, wenn ich sage, dass mir dieses und jenes nicht gefällt. Kostet nichts, ist unverbindlich, risikolos und macht nen schlanken Fuß. Widerstand ist, wenn ich aktiv dafür eintrete, dass die kritisierten Zustände nicht längere andauern. Z.B. Wackersdorf, Startbahn West, Gorleben, Blockaden von Atommülltransporten, Greenpeace-Aktionen, wilde Streiks.

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