Donnerstag, 10. April 2014

Bekenntnisse eines Identitätsbetrügers

Ich möchte mit den Problemen beginnen, die man mit seinem echten Namen haben kann, bevor ich zu meiner unseligen Vergangenheit mit Internet-Pseudonymen komme: Ich habe einen Namensvetter in Frankfurt, der unter anderem auch als „Matthias Eberling“ bei Facebook firmiert. Eines Tages rief seine Cousine bei mir an und fragte, warum ich „damals“ mit meiner Familie gebrochen hätte. Ich hörte mir eine Weile ihre Probleme an, verstand nicht, was sie wollte, und legte auf. Es folgten Briefe und weitere Anrufe. Es bedurfte einiger Überredungskunst, diese mir unbekannte „Maria“ zu überzeugen, dass ich kein verschollenes Familienmitglied sei, sondern mit meinen Blutsverwandten in Rheinhessen durchaus in regem Austausch stünde. Bei Facebook findet man mich daher unter dem Namen „Jan Mardo“, einer Romanfigur von mir (übrigens die Idee eines befreundeten Autors, der glaubte, meine Leserschaft würde den Privatdetektiv aus Berlin vielleicht im Netz suchen – bis heute hat sich allerdings noch kein Leser gemeldet). Schon damals wurde mir klar, dass Pseudonyme im Netz nichts verbergen, denn der erste Freundesvorschlag von Herrn Zuckerberg aus Amerika für Herrn Mardo aus dem Wedding war eine mir hinreichend bekannte und sehr nette Nachbarin aus meinem Haus in Wilmersdorf – nur ein Stockwerk über mir (IP rulez!).
Aber jetzt zu den Gründen, warum ich keine Pseudonyme mehr verwende: 2003 war ich auf der Suche nach einer Frau auf diversen Kontaktanbandelungsseiten im Netz unterwegs. Dort hatte ich unter den Pseudonymen „Mono Lake“, „Swamp Thing“, „CRAZY HORST“ und „Armageddon Now!“ Profile angelegt, die alle Facetten meiner schillernden Persönlichkeit abdeckten. Berlin ist voller einsamer Frauen mit Internetanschluss. Der Chat lief etwa so:
Ich: Hi! Du lebst noch?
Sie (nennen wir sie „Brainspotting“): Tausche blödes altes Leben gegen neue Version.
Ich: Ich könnte in einer Stunde am Flughafen sein. Wir verlassen das Land, okay?
Sie: Wohin sollen wir gehen?
Ich: Zuerst Las Vegas. Eine Fünf-Dollar-Hochzeit mit zwei besoffenen Pennern als Trauzeugen. Ich als Late Elvis im Paillettenanzug, du gehst als Heidi.
Sie: Hast du irgendwas eingepfiffen?
Ich: Glaubst du, sie tun LSD ins Trinkwasser? Werde gleich mal das Katholische Wasserwerk Spandau anrufen!
Sie: In welchem Kiez trifft man dich? Was machst du so?
Ich: Schöneberg. Bin Sozialforscher. Ich schau mir an, was die Leute so den ganzen Tag machen und frage mich, warum sie das tun. Und du?
Sie: Schöneberg! Kennst du Mister Hu oder Green Door? Ich arbeite gerade bei einer TV-Produktionsfirma.
Ich: Lass uns doch da einen Cocktail schlürfen. Ich bringe einen Atlas mit und wir besprechen die Einzelheiten der Flucht. Wann hast du Zeit?
So geht es mit „CRAZY HORST“ weiter und immer weiter. Neben der verrückten Spaßmacher-Rolle habe ich mit „Mono Lake“ den nachdenklichen Romantiker erschaffen. Er schreibt so: „Ich habe mich nach der Schöpfung zurück gezogen und lebe nun als kleiner See in Kalifornien. Es ist nicht übel hier! Ich betrachte morgens die Sonne, die über den Tannen aufgeht, und lache nachmittags über die Segelboote, die meinen Bauch kitzeln ...“ Das spricht natürlich auch andere Frauen an. Für die Frauen, die über Sex reden wollen oder auf der Suche nach einer Affäre sind, habe ich „Swamp Thing“ erfunden. Es ist nicht so, dass nur die Männer das Netz für diese Spielchen nutzen. Ich habe selbst erlebt, wie eine Frau mir plötzlich schreibt, sie hätte gerade den Vibrator rausgeholt. Ich bin im Chat gefragt worden, ob denn mein Sperma anders schmecke, weil ich Raucher sei. Eine Frau entpuppte sich als adipöse Rächerin für die zahllosen geplatzten Dates, die ihr das Herz gebrochen hatten.
Mal dauert es länger, mal geht es ganz schnell mit der Kontaktaufnahme. Aber immer steht am Ende eines guten Gesprächs ein Blind Date. Es scheint, so ist mein Eindruck (und der Eindruck aller darauf angesprochenen Damen), nur wenige intelligente und witzige Männer in diesen Internet-Foren zu geben. Männer, die in der Lage sind, sich schriftlich in zusammenhängenden Sätzen äußern zu können. Die eine zweizeilige „Flirt-Mail“ nicht mit dem Satz beginnen: „Fickst du gut?“ Oder die mit Hingabe stundenlang chatten und reden können. Ich habe die Kraft, denn ich habe den ganzen Tag Zeit für die Kontaktaufnahme im Internet. Ich habe die Zeit, mich auf ein Treffen vorzubereiten. Ich komme nicht gestresst aus dem Büro und mein Privatleben ist frei von Verpflichtungen. Abends bin ich dann ein konzentrierter Zuhörer und charmanter Unterhalter. Auf diese Weise haben sich einige unvergessliche Affären ergeben. Ich erinnere mich an eine französische Schönheit, die beim Film gearbeitet hat. Wundervolle rotbraune Locken, endlose perfekte Beine und Augen, für die sie im Mittelalter als Hexe verbrannt worden wäre. Mit Rotwein und bei Kerzenschein in der Badewanne liegen, sich bei einem alten Lubitsch-Film gegenseitig mit Erdbeeren und Eis füttern, maßlose Zärtlichkeit. Oder die kleine grünäugige Grafikerin aus Pankow, die betrunken auf Knien um Sex gebettelt hat. Sie hat das halbe Haus zusammen geschrien, zum Glück waren wir immer bei ihr. Dann die Stylistin, die mich nach dem Ebenbild ihrer Models umgestalten wollte. Die riesige Basketballerin, deren Sportlichkeit genannte permanente Unruhe mich nervös zu machen begann. Die koksende Fernsehredakteurin, die zum Frühstück immer nur einen halben Liter Coca Cola getrunken hat und die ich eigentlich nie ohne Zigarette erlebt habe.
Der Höhepunkt war jedoch eine Juristin aus Hannover, Absolventin der Henri-Nannen-Journalistenschule und Pressesprecherin einer ungenannt bleibenden Organisation in Berlin. Bei unserem dritten Treffen fuhr mich jene Dame in ihrem Volkswagen bar jeglicher Ankündigung und mit offensichtlich äußerst konkreten Absichten zu einem Hotel am Berliner Autobahnring. Mit britisch zu nennender Gelassenheit erwarb ich ein Motorsportmagazin im Foyer, während sie am hellichten Sonntagnachmittag das Doppelzimmer im Voraus bezahlte. Die erste Stunde verstrich mit einer Fußballübertragung (ich kann mich in solchen Situationen selbst für die zweite Liga begeistern) und dem gelangweilten Blättern in jener Fachzeitschrift für den mobilen Herren. Sie musste mich durch die Entblößung ihrer (allerdings in der Tat exquisit geformten) sekundären Geschlechtsmerkmale geradezu zwingen, mein Augenmerk den erotischen Vorgängen im Kingsize-Bett zu widmen. Da ihr Yorkshire-Terrier im Wagen wartete, verließen wir bereits vor Einbruch der Dämmerung das „Motel One“ und fuhren zurück in die Stadt.
Sie sprach in den folgenden Wochen nicht nur von Heirat, sondern erwartete im Ernst, dass ich nach der Hochzeit ihren Nachnamen annehmen würde (sie war das einzige Kind eines geachteten Vorstandmitglieds jenes DAX-notierten Konzerns, dessen Namen ich erfolgreich verdrängt habe). Glücklicherweise fuhr ich einige Tage später mit einem Freund für eine Woche nach Sils Maria im Kanton Graubünden. Die zauberhafte Landschaft und die gute Gesellschaft sind vorzüglich dazu geeignet, grundlegende Entscheidungen für das eigene Leben zu überdenken und letztlich auch zu treffen. Hier hatte nicht nur jene Lichtgestalt und Jahrhundertkoryphäe namens Kiezschreiber großartige Momente der Eingebung, sondern auch weniger bekannte Sekundärquellen wie Hermann Hesse und Friedrich Nietzsche. Und beim Blick von der weltberühmten Chasté über den Silser See fasste ich den schicksalhaften Entschluss, mit jener Dame endgültig zu brechen.
Vielleicht hätte ich eine SMS schicken sollen? Ich beschloss zu schweigen. Old School. Sie würde es begreifen. Doch an diesem Punkt lag ich falsch. Sie lauerte mir eines Abends vor meiner Haustür auf. Es klingt wie ein schlechter Witz, aber es ist wirklich wahr: Mit einem gefakten Profil auf einer Dating-Seite hat sie mich tatsächlich hinaus gelockt. Sie schrie mich an, sie schlug mir ins Gesicht. Sie versuchte, mein Gesicht zu zerkratzen, was ihr angesichts ihrer kurz geschnittenen Fingernägel jedoch nicht gelang. Sie spuckte mich an, aufgrund ihres maßlosen Zorns traf mich allerdings nur ein dünner Sprühregen. Als ich mich nach einigen Minuten abwandte und ging, weil ich zu diesem Zeitpunkt den Eindruck hatte, dass logische Argumente der Situation nicht angemessen gewesen wären, brüllte sie „Hilfe! Vergewaltigung! Polizei!“ Keiner von den Gästen des indonesischen Restaurants gegenüber, die an ihren Tischen die ganze Szene miterlebt hatten, eilte ihr zu Hilfe. Es war vorbei. Aber in dieser Nacht habe ich beschlossen, im Netz keine Täuschungsmanöver mehr durchzuführen.
P.S.: Meine Erinnerungen stützen sich auf die Anthologie "Die singende Fleischwurst", die ich unter dem albernen Pseudonym Rondo Delaforce 2008 veröffentlicht habe.
Soundtrack: "Halt dich an deiner Liebe fest" von Freundeskreis. http://www.youtube.com/watch?v=BSNhTnEALLY

6 Kommentare:

  1. Freut mich, das es dir wieder besser geht.
    Schönen Gruß
    Hubert (Brunnenviertel)

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  2. Vielen Dank! Ohne dich gäbe es dieses Blog nicht, das weißt du ja. Bei dir alles senkrecht?

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    1. Danke dir Matte..
      Bei mir alles soweit roger...
      Schaue oft hier vorbei.
      Laß es dir gut gehen in Schweppenhausen.
      Trink ein Schweppes für mich mit, grins
      Schönes Wochenende
      Hubert

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    2. Wenn es um Getränke geht, müsste der Ort eigentlich Schoppenhausen heißen ... Dir auch ein schönes Wochenende.

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  3. Schön zu lesen,hat mir jetzt mal gut getan,was nicht alltägliches zu lesen. Merci . Du lebst doch jetzt irgendwo am
    Rhein? LG Helmut

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  4. Ja, in Schweppenhausen (hinter Bingen). Du backst jetzt leckere Waffeln am Ingelheimer Bahnhof, habe ich gehört. Da komme ich demnächst mal vorbei!

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