Samstag, 30. September 2017

Deutscher Herbst 1977 – aus der Perspektive eines Elfjährigen

Wie weit weg man als Kind doch von politischen Ereignissen war. Ist das heute noch so? Herbst 1977. Ich bin elf Jahre alt. Der sogenannte „Deutsche Herbst“, in dem die Rote Armee Fraktion und ihre palästinensischen Verbündeten die Nachrichten bestimmten, begann am 5. September mit der Entführung des damaligen Arbeitgeberpräsidenten Schleyer.
Meinem Tagebuch entnehme ich, dass ich an diesem Tag verschlafen hatte und zu spät zur Schule kam. „Zum Mittagessen gab es Nudeln mit Gulasch. Dann spielte ich mit den Spielzeugautos und mit meinem Lego. Ich baute eine Rennbahn, einen Tunnel, eine Box und spielte Rennen. Von 17 Uhr bis 18 Uhr Fernsehen gesehen. Dann mit Papi ins Schwimmbad. Es war schön. Um 20:20 Uhr zu Hause. Bis um 21:30 Uhr Fernsehen gesehen und dann ins Bett.“ Nichts zu den dramatischen Ereignissen. Es ist wie bei Kafka 1914 zum Kriegsbeginn: „Nachmittag Schwimmschule.“
Der Oktober ist von anderen Ereignissen geprägt: Herbstferien bei meiner Oma in Diez und am 14. Oktober der verwegene Plan: „Auch will ich ein Buch schreiben. Über die Träume, die ich hatte.“ Tatsächlich habe ich heute noch die Aufzeichnungen von einem halben Dutzend Träumen aus diesem Jahr in handschriftlicher Form. Ein Buch wurde es zwar nicht – aber die Ambition, endlich mal ein gutes Buch zu machen, hat mich seit vierzig Jahren nicht verlassen.
Dann treten die historischen Momente am 18. Oktober doch noch in mein Leben. Morgens hatte ich mit meiner Großmutter einen Nusskuchen gebacken und ein Puzzle gemacht. Es gibt Buletten und Kartoffelbrei zum Mittagessen, zum Nachtisch Vanillepudding. Am Nachmittag gehe ich mit meiner Oma in die Stadt, abends sehen wir fern. Ganz unten auf der Seite noch der Eintrag: „P.S.: Die von Terroristen entführte Boeing 737 von deutschen Soldaten erstürmt. Geiseln frei (nur nicht H.-M. Schleyer), 3 Terroristen begangen Selbstmord. Schleyer seit 6 Wochen entführt.“
Am nächsten Tag, es gab Schnitzel mit Kartoffeln zum Mittagessen und meine Oma kaufte mir ein 500-Teile-Puzzle mit dem Motiv „Schloss Neuschwanstein“, heißt es ganz am Ende nur lapidar: „P.S.: Schleyer doch von Terroristen ermordet.“ Mehr finde ich zum Thema Politik nicht in diesem Tagebuch, das ich akribisch geführt habe und mit dem unsterblichen Fazit endet: „In diesem Jahr gab es 46 mal Spaghetti mit Fleischsoße.“ Mein Lieblingsessen. Eine schöne Kindheit.
P.S.: Ich habe gerade die „Berlinreise“ von Hanns-Josef Ortheil gelesen. 280 Seiten über eine Woche in Berlin 1964 – damals war Ortheil dreizehn Jahre alt. Und für die Veröffentlichung des Manuskripts eines Kindes wurde nur die Rechtschreibung überarbeitet. Da sieht man schon in jungen Jahren den Unterschied zwischen einem gefeierten Schriftsteller und einem späteren Blogger.

Dienstag, 26. September 2017

1994 revisited

„Zögen alle am gleichen Strang, so würde die Welt kentern.“ (Jiddisches Sprichwort)
Wer erinnert sich noch an die Bundestagswahl 1994? Nochmal Helmut Kohl. Die vierte Amtsperiode. Bleierne Jahre. Ich kann mich gar nicht mehr an konkrete Politikvorhaben in dieser Legislaturperiode erinnern, obwohl ich zu dieser Zeit an meiner Doktorarbeit schrieb und als Politikwissenschaftler mein Vollkornbrot verdient habe, also näher am Thema dran war als heute, wo ich über tausend verschiedene Themen nachdenke, lese und schreibe.
Jetzt also die vierte Amtszeit von Angela Merkel. Wir werden alle froh sein, wenn es vorbei ist. Es gibt einfach den Punkt, an dem man eine Fresse nicht mehr sehen kann, wie es Pofalla mal formuliert hat. Fernsehserien werden bei mangelnder Quote abgesetzt, Politiker durch Wahlen. Da haben wir am Sonntag kollektiv versagt. Bleierne Jahre liegen vor uns.
Wer ist schuld? Die Politiker haben auf diese Frage eine schnelle, verdächtig AfD-nahe Antwort. Die Medien sind schuld. Klar, wer sonst? Intendanten und Redakteure haben den rechtsradikalen Wählern die Hand im Wahllokal geführt. Erst von den Medien belogen, dann verführt. Dann kann man sich ja bei den „Volksparteien“ beruhigt zurücklehnen und weitere Analysen bleiben lassen.
Was haben uns die Parteien vier Jahre im Parlament vorgeführt? Kuschelgespräche auf dem Konfrontationsniveau der Teletubbies. Tinky-Winky und Po spielen Regierung, Dipsy und Laa-Laa sind irgendwie dagegen. Wie war das Duell der Spitzenkandidaten? Die großen Sender hatten ein älteres Ehepaar eingeladen und einen Fernsehabend veranstaltet, der im Vergleich jeden Nähkurs meiner Volkshochschule zu einem Actionthriller macht. Man hätte auch zwei Pandabären zeigen können.
Die Zuschauer – auch in ihrer Funktion als Wähler – wollen aber die Zuspitzung, die Auseinandersetzung, den Wahl-Kampf im Wortsinne. Also wurden in den letzten Jahren die Talkshows zum Ersatzparlament. Die CDU hat es als letztes begriffen und immer nur eine Witzblattfigur aus der zweiten Reihe namens Bosbach in die Arena geschickt. Die AfD hat immer geliefert. Harte Auseinandersetzung, Holzhammer statt Plüsch. Das hat sie von Trump und all den anderen Demagogen gelernt. Die Teletubbies bringen keine Quote – und am Ende des Tages auch keine Wählerstimmen.
Wenn die „Volksparteien“ nicht schleunigst wieder in ihre alten Lager zurückkehren, die SPD nach links und die Union nach rechts, werden sie nach den bleiernen Jahren 2021 zusammen keine fünfzig Prozent mehr bekommen. Dazu muss man kein Prophet sein.
Carly Simon - You're So Vain. https://www.youtube.com/watch?v=b6UAYGxiRwU

Sonntag, 24. September 2017

Danke, liebe AfD!

Ab 25.9.2017 sind folgende Sätze endlich wieder erlaubt:
„ Du dreckiger Knoblauchfresser hast mich beim Wechselgeld beschissen.“ (=> türkischer Gemüsehändler)
„Für Untermenschen wie dich gibt es immer einen Platz in der Gaskammer.“ (=> Behinderter, der sein Auto auf einem Behindertenparkplatz abstellt)
„Ihr Judenschweine solltet alle an den Laternen baumeln.“ (=> Sachbearbeiter der Sparkasse)
Endlich haben wir mehr Meinungsvielfalt in Deutschland. Oder hast du diesen Text gar nicht verstanden, weil du aus irgendeiner Ficki-Ficki-Bude in Timbuktu stammst?
Da fällt mir nur noch folgender Witz ein:
Ein Hai macht ein Kreuzworträtsel. Da kommt ein Delphin vorbei. Der Hai sagt: „Hey, Delphin, du bist doch so schlau. Was ist denn ein Raubfisch mit drei Buchstaben?“ Der Delphin antwortet: „Schau dich doch mal selbst an, dann kommst du drauf.“ Der Hai überlegt kurz und schreibt dann: AfD.

Freitag, 22. September 2017

Was haben Bayern, Katalanen und Ostukrainer gemeinsam?

Separatismus ist der neue heiße Scheiß. Das ist völkischer Egoismus auf niedrigstem Niveau – passt also wunderbar in die heutige Zeit. In meiner Jugend gab es nur die Basken, die von Spanien unabhängig werden wollten, und die Korsen, die von Frankreich unabhängig werden wollten. Dann kam die Lega Nord und wollte sich vom sonnigen Süden Italiens abseilen. In den neunziger Jahren schließlich wurde es in Jugoslawien richtig hässlich.
Was läuft aktuell in Sachen Separatismus? Nächste Woche gibt es ein Referendum zur Unabhängigkeit im Nordosten Spaniens. In der Ostukraine ballern sich seit Jahren russische Milizen in die Schlagzeilen – und Bayern hat es in diesem Jahr auch probiert. Der Antrag der Bayernpartei zu einem Referendum über den Austritt des Freistaats wurde im Januar vom Bundesverfassungsgericht abgelehnt. Begründung: „In der Bundesrepublik Deutschland als auf der verfassunggebenden Gewalt des deutschen Volkes beruhendem Nationalstaat sind die Länder nicht ,Herren des Grundgesetzes‘. Für Sezessionsbestrebungen einzelner Länder ist unter dem Grundgesetz daher kein Raum. Sie verstoßen gegen die verfassungsmäßige Ordnung.“
Zur bayrischen Separatistenbewegung merkt Wikipedia lapidar an: „unbewaffnet, wird teilweise ohne Franken angestrebt“ (Artikel: Liste derzeitiger Sezessionsbestrebungen in Europa). Ich sage: noch unbewaffnet. Bergkarabach liegt am Chiemsee.

Dienstag, 19. September 2017

Mein rechter rechter Platz ist frei

… ich wünsche mir die AfD herbei.
Meine These: Mittelfristig wird die AfD zur Mehrheitsbeschafferin einer neokonservativen Regierung der Union in der Post-Merkel-Ära. Sozialdemokraten und Grüne haben als Regierungsparteien, die seit 1998 an der Zerschlagung des Sozialstaats und der Arbeitnehmerrechte maßgeblichen Anteil hatten, ausgedient. Eine weitere Sozialdemokratisierung der Union ist daher gar nicht notwendig. Mithilfe der AfD als Koalitionspartner wird die Union ihr altes konservatives Profil schärfen können, da sämtliche politischen Ziele – Marginalisierung des linken Spektrums auf die zahnlose PdL und Splittergruppen, neoliberale Reformen, Spaltung und Verunsicherung der Gesellschaft, Stärkung der Arbeitgeberposition – erreicht wurden.
Sehen wir uns kurz die wesentlichen Programmpunkte der AfD an und überprüfen wir sie auf ihre Kompatibilität mit der Union:
Stärkung des Nationalstaats. Völlige Übereinstimmung mit der CSU, die auch aktuell an ihrer feudalen Außenpolitik festhält, wenn z.B. Seehofer Staatsbesuche bei Orban oder Putin unternimmt. Eine Ausweitung des europäischen Engagements der Union ist in der Post-Merkel-Ära nicht zu befürchten.
Aufrüstung des Militärs. Völlige Übereinstimmung mit der aktuellen Politik der Union.
Austritt aus dem Euro und dem ESM. Keine Übereinstimmung mit der Union. Wird aufgrund des fehlenden Konsens‘ marginalisiert wie zuvor die Themen Finanztransaktionssteuer oder Reform der Erbschaftssteuer bei Koalitionen mit der SPD.
Aufrüstung der Polizei, Erleichterung von Ausbürgerungen und Abschiebungen von Migranten, Begrenzung der Einwanderung. Völlige Übereinstimmung mit der Union.
Stärkung von Familien und der Ehe zwischen Mann und Frau, Kampf gegen Gender-Ideologie. Völlige Übereinstimmung mit der Union, selbst Merkel hat gegen die Ehe für alle gestimmt.
Deutsche Leitkultur. Völlige Übereinstimmung, v.a. mit der CSU.
Steuersenkungen, Abschaffung der Erbschaftssteuer. Übereinstimmung mit der CSU.
Kein Tempolimit auf Autobahnen, Ausstieg aus der Energiewende, Abschaffung der Umweltzonen. Übereinstimmung mit der CSU.
Schlanker Staat, Senkung der Subventionen und der Staatsquote. An diesem Punkt wird die Anschlussfähigkeit zur FDP als möglichem Partner einer sogenannten Scheißhauskoalition® (schwarz-braun-gelb) hergestellt.
P.S.: Im Kinderspiel „Mein rechter rechter Platz ist frei“ gibt es weder Gewinner noch Verlierer. In der politischen Variante gibt es 99 Prozent Verlierer. Die meisten von ihnen werden es – mal wieder – gar nicht oder zu spät begreifen.
Industry - State Of The Nation. https://www.youtube.com/watch?v=_SEn4Cc8BVM

Donnerstag, 14. September 2017

Stürzen – Fallen – Fliegen

„Jemand sagte, Sie können da nicht bleiben. Ich konnte da nicht bleiben, und ich konnte nicht weiter.“ (Samuel Beckett: Texte um Nichts)
Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, ob ich die Treppe hinunter stürzte oder ob ich hinab geworfen wurde. Es war ein langer und verwirrender Abend gewesen. Ich spürte es kaum, als ich Stufe für Stufe hinter mich brachte. War es der Alkohol, waren es Drogen? Ich spürte keinen Schmerz.
Ich dachte an ihre Lippen, an ihre schönen weißen Zähne. Sie saß auf meinem Schoß und ich betrachtete einfach nur ihren Mund, während sie sprach. Die Worte habe ich längst vergessen.
Ich stürzte weiter und dachte an das Meer. Den Schaum vor dem Bug des Schiffes, die Gischt, die zischend mein Gesicht traf. Ich schmeckte das Salz und freute mich in diesem Augenblick maßlos, denn der Geschmack von Salz verhieß neue Abenteuer.
Alles drehte sich um mich und ich dachte an den schönen Garten hinter dem Haus. Die großen ruhigen Bäume. Wie wir damals über die schmalen Wege schlenderten, das ausgelassene Geschrei der Kinder im Ohr.
Ich dachte an meine Mutter, während ich fiel. An Schokolade. An Bücher. Musik. Feste. Farben. Gerüche.
Du kannst im Rinnstein liegen. Kein Problem. Aber nicht mit dem Gesicht nach unten. Da ist die Grenze.
Grace Jones – The Crossing. https://www.youtube.com/watch?v=XZz4RI628B4

Wenn beim Cabrio die rote Sonne im Meer versinkt



Blogstuff 154
„Wo viel Raum ist, da ist viel Zeit (…). Wir Europäer (…) haben so wenig Zeit, wie unser edler und zierlich gegliederter Erdteil Raum hat, wir sind auf genaue Bewirtschaftung des einen wie des anderen angewiesen, auf Nutzung (…). Nehmen Sie unsere großen Städte als Sinnbild (…). In demselben Maße, wie der Boden sich dort verteuert, Raumverschwendung zur Unmöglichkeit wird, in demselben Maße (…) wird dort auch die Zeit immer kostbarer.“ (Thomas Mann: Der Zauberberg)
Mein Vater ist neulich mit meinem Neffen (20) in ein Museum gegangen. Kommentar des jungen Mannes zu den Gemälden: „Die kauft doch kein Mensch, die hängen bestimmt noch in zehn Jahren hier.“ Kann man sich nicht ausdenken …
Er hörte den Bass seines Chefs, den Bariton des Abteilungsleiters, den Tenor des Gruppenleiters und den Sopran des Betriebsrats, schließlich die Fistelstimme seines Kollegen. Sie näherten sich seinem Büro wie ein Gewitter. So war der Augenblick seiner Entlassung.
Ich würde gerne eine Universität für Jedermann gründen, mit Seminaren, Diskussionen und kurzen Impulsreferaten im Internet. Aber dann fiel mir ein, dass ich mich als Anarchist ja gar nicht organisieren darf – sonst fliege ich aus meinem Verein „Herrschaftsfrei statt alkoholfrei e.V.“. Dabei bin ich schon bei „Heidenspaß – Atheisten mit Humor“ mit meinen Beiträgen im Rückstand.
Gemüse? Kenne ich nur vom Möhrensagen.
Angela Merkel ist nicht unser Hauptproblem – es sind ihre Wähler.
Im Mittelalter hatte man Prophezeiungen, heute haben wir Prognosen. Früher las man die Zukunft aus den Eingeweiden von Opfertieren, jetzt studieren wir die neuesten Meinungsumfragen.
„Die CSU repräsentiert den engstirnigen Katholizismus und den Bauernstolz des vormodernen Bayern. Himmelherrgottsakrament! Malefizlumpen, elendige!“ (Professor Nepomuk Wirsing, Experte)
„Ich verstehe das nicht. Bald sind wieder diese Bundesligawahlen, aber mein Verein steht nicht auf dem Zettel. Dann eben ohne mich.“ (Heinz Pralinski: Ansonsten einwandfrei – Malbuch für Nichtmaler)
Es kann immer passieren, aber es ist nie passiert. Und dann passiert es doch: Ich schlage am Abend meiner Ankunft die Bettdecke zurück und darunter sitzt eine Spinne.
Manche Hindus tragen auf der Stirn ein Bindi, einen aufgemalten Punkt, wo das spirituelle dritte Auge vermutet wird. Andy Bonetti trägt bei öffentlichen Auftritten einen aufgeklebten Kronkorken auf der Stirn, um gegen die Diskriminierung von „kultureller Aneignung“ durch die Critical Whiteness-Bewegung zu demonstrieren.
Ich kenne einen Amerikaner aus der Kleinstadt Mexico in Missouri. Wie nennen sich die Einwohner im rassistischen Trump-Amerika, wenn sie nicht Mexicans sagen wollen? Sie nennen sich „MexicOans“. Gott schütze dieses Nest in the middle of nothingness.
Sandkuchen backen, Sandhäuser bauen. Mein Leben lang habe ich nichts anderes gemacht.
Für die Leserinnen und Leser aus Berlin ist der Leiter des Hauptstadtarchivs von Bonetti Media Unlimited tief in seine Katakomben gestiegen. Radio-Legende Lord Knud spricht zu uns. Danke, Harri!
http://rias1.de/sound4/rias_/knud/knud_interviews/000000_interview.html#radio972
Hier noch ein historisches Stück Radiogeschichte. Die ersten jemals gesendeten Worte aus der Weimarer Republik:
http://www.rias1.de/sound4/timeline_nachrichten/1920-1929/19231029_mitteilung_aus_dem_vox_haus_krutschke_.mp3

Dienstag, 12. September 2017

Der perfide Alarmismus der Medien

Es geht auch anders. Ohne den wöchentlichen Weltuntergang, ohne Geflenne, ohne düstere Prophezeihungen.
Hier eine Meldung der "Aktuellen Kamera" des DDR-Fernsehens 1986:
http://www.mdr.de/damals/archiv/video-128426.html
Sachliche Berichterstattung statt Panikmache:
http://www.mdr.de/damals/archiv/video-128432.html

Montag, 11. September 2017

Der Nachbar

„Die Welt schien mir nun vertraut bis ins kleinste, so wie die Klotür von innen.“ (Wiktor Pelewin: Omon hinterm Mond)
Die Häuser sehen alle gleich aus. Die Möbel, die Bilder an den Wänden. Es ist so deprimierend. Man geht hinein und da steht die unvermeidliche Kommode im Flur. An der Wand gegenüber sind die Haken der Garderobe. Es gibt nichts, das ich mitnehmen würde. Nichts, das mir gefällt. Nichts, das ich nicht selbst hätte. Ich gieße die Blumen und gehe wieder.
Drei Tage später bin ich wieder hier. Meine Nachbarn sind im Urlaub. Ich weiß nicht, warum ich das überhaupt mache. Ich selbst habe keine Blumen und ich würde auch niemanden in mein Haus lassen, wenn ich verreist wäre. Wem kann man heutzutage noch trauen?
Im Wohnzimmer stehen ein Sofa aus weißem Leder und ein Fernsehsessel. Ich setze mich hinein. Mit einem Schalter kann man sich in eine liegende Position bringen. Ich probiere es eine Weile aus. Lehne rauf, Lehne runter, Lehne rauf, Lehne runter.
Es ist so still hier. Im Regal, das eine ganze Wand einnimmt, ist eine Stereoanlage. Was hören denn die Meiers so? Ich schaue mir die CDs an. Classic Rock. Wie erbärmlich. Wolfgang Petry. Immerhin auch eine Platte von AC/DC. Soll ich Musik hören? Nein. Ich gieße die Blumen und gehe wieder.
Beim nächsten Mal werfe ich einen Blick in den Kühlschrank. Sie haben vor dem Urlaub wirklich klar Schiff gemacht. Da stehen nur Ketchup und Marmelade. Eine Flasche Wein mit Schraubverschluss. Eine Tube Senf, die fast leer ist.
Im Schlafzimmer steht ein Schrank, der zu drei Vierteln mit Röcken, Blusen und Mänteln der Ehefrau gefüllt ist. Was für ein langweiliger Mist. Faltenröcke von Frau Meier und Cordhosen von Herrn Meier. Wie kann man nur so ein ödes Leben führen? Ich gieße die Blumen und gehe wieder.
Einige Tage vor ihrer Rückkehr sitze ich am Schreibtisch von Herrn Meier. In den Schubladen alte Rechnungen und Ansichtskarten. Der Wagen ist nur geleast und offenbar kennen die Meiers ausschließlich Leute, die auf den Kanarischen Inseln Urlaub machen. Im Augenblick sind sie gerade an der Costa Brava. Nicht gerade originell.
Im Keller gibt es tatsächlich so etwas wie einen Gymnastikraum. Eine Bank und ein paar Hanteln. Ein Heimtrainer. Überall ist Staub auf den Geräten. Keine Disziplin, diese Leute. Kein Wunder, dass beide so dick geworden sind. Sie sollten sich mehr bewegen. Ob ich Herrn Meier nach seiner Rückkehr mal auf das Thema anspreche?
In einer Abstellkammer finde ich auf dem obersten Regal einen Karton mit Fotografien. Herr Meier hat seine Nachbarin fotografiert, die im Garten oben ohne ein Sonnenbad nimmt. Du kleine, miese Drecksau! Meier, du Spanner. Schnüffelt gerne hinter den Leuten her. Hätte ich mir ja denken können. Ich gieße die Blumen und gehe wieder.
Bryan Ferry - Let's Stick Together. https://www.youtube.com/watch?v=Z9EbR0ckb40

Sonntag, 10. September 2017

Berliner Milljöh 1979 – ein Meilenstein der Fernsehgeschichte

„Die große Flatter“ – das war ein TV-Dreiteiler des WDR, der 1979 im ersten Programm ausgestrahlt wurde. Armut ohne Hoffnung, Gewalt ohne Sinn und Trostlosigkeit ohne Ausweg – das Leben der Unterschicht hat sich bis heute nicht geändert. Gerade deshalb ist dieses Stück Fernsehgeschichte auch 2017 noch sehenswert. Warum werden solche Serien heute nicht mehr gedreht?
Teil 1: https://www.youtube.com/watch?v=7tCb_aCqjAc
Teil 2: https://www.youtube.com/watch?v=KLtbwJM8wsc
Teil 3: https://www.youtube.com/watch?v=shMBUIZwAgk
P.S.: Alle drei Teile sind jeweils neunzig Minuten lang – nicht durch die Zeitangaben bei YouTube täuschen lassen.

Donnerstag, 7. September 2017

Vor dreißig Jahren

Am 7. September 1987 besuchte Erich Honecker die Bundeshauptstadt Bonn. Der erste Staatsbesuch eines DDR-Regierungschefs im Westen. Am 11. September 1987 schrieb Robert Leicht in der ZEIT zu diesem Thema:
„Heute sind sowohl die Bundesrepublik als auch die DDR jeweils die Nummer zwei in ihren Bündnissen, die nicht zuletzt geschaffen wurden, um sie ‚einzubinden‘. Jeder Gedanke an eine Veränderung, erst recht an eine Zusammenfassung ihres territorialen, politischen und wirtschaftlichen Potentials wäre für die Nachbarn besorgniserregend. Eine Wiedervereinigung müßte in europäischen, also auch in unseren Augen zurückführen in den Zustand, der letztlich die Teilung nach sich gezogen hat: zu einer Macht in der Mitte Europas, die alle angrenzenden Länder zu Randstaaten machen würde und die folglich zu Allianzen gegen uns führen müßte.“
Giulio Andreotti, siebenmaliger italienischer Ministerpräsident zwischen 1972 und 1992, sagte 1984 – da war er gerade Außenminister: „Es gibt zwei deutsche Staaten, und zwei sollen es bleiben.“
Michel Jobert, französischer Außenminister, argwöhnte Jahre später: „Deutschland beabsichtigt, seinen eigenen Weg zu gehen. Dies ist ein Volk, das denkt – bauend auf die wirtschaftliche Stärke und den gegenwärtigen Wohlstand der Bundesrepublik – einen Handel mit den Sowjets machen, um seine Einheit zurückzukaufen, in welcher Form auch immer.“

Dienstag, 5. September 2017

Peter und Jonas

„Und alle, die gläubig geworden waren, bildeten eine Gemeinschaft und hatten alles gemeinsam. Sie verkauften Hab und Gut und gaben davon allen, jedem so viel, wie er nötig hatte.“ (Apostelgeschichte 2, 44-45)
Als er aufwachte, war es noch dunkel. Er blieb liegen und hörte den Geräuschen der Stadt zu. Das helle Wispern der Autos, das dumpfe Brummen der Lastwagen, der Hornissengesang der Motorroller.
Dann sah er durch die Mattglasscheibe der Wohnzimmertür Licht. Jonas war aufgestanden. Er wollte ihn nicht stören. Außerdem hatten sie sich gestern Abend gestritten. Irgendwas mit Politik. Irgendwo im Ausland. Irgendwie im Fernsehen.
Er hörte, wie Jonas duschte. Er hörte, wie in der Küche der Toast aus der Maschine sprang. Er hörte, wie die Tür geschlossen wurde. Schritte im Treppenhaus. Jonas war zur Arbeit gegangen. Immer wieder Schritte im Treppenhaus. Alle gingen zur Arbeit. Dann war es endlich still im Haus.
Er lag immer noch auf dem Sofa. Seit drei Monaten lag er auf dem Sofa, immer mit derselben Decke und demselben Kopfkissen. Er machte den Fernseher an. Die aufgekratzte Fröhlichkeit und deprimierende Oberflächlichkeit des Frühstücksfernsehens. Er ging auf die Toilette.
Als er am Fenster stand, sah er die Frau im Haus gegenüber. Sie kam an jedem Vormittag mit ihrem Baby und setzte sich auf den Balkon. Ob es ein Junge oder ein Mädchen war? Der Säugling trug einen weißen Strampelanzug. Auch die Mutter war in hellen Farben gekleidet. Er hätte die Farben gar nicht benennen können. Das Fenster war sicherlich seit einem Jahr nicht mehr geputzt worden.
Drei Monate hatte er jetzt keine eigene Wohnung mehr. Vor drei Monaten war er bei Jonas eingezogen. Seit einem Jahr hatte er keinen Job mehr. Beim Job-Center hatten sie ihm eine Umschulung angeboten. Aber er wollte nicht in einer Gärtnerei arbeiten. Er wollte einen Büro-Job. Notfalls auch eine Stelle als Pförtner.
Er zog einen Roman aus dem Bücherregal im Wohnzimmer und las ein paar Seiten. Aber er kam einfach nicht in die Geschichte rein. Er legte das Buch wieder weg und saß stumm auf dem Sofa. Er versuchte, den Moment noch ein wenig heraus zu zögern, aber um zwei Uhr nahm er die Flasche Wein aus dem Kühlschrank.
***
Als ich nach Hause kam, war Peter schon betrunken. Im Wohnzimmer roch die Luft abgestanden und nach Schweiß. Er hatte auch wieder geraucht, ohne wenigstens einmal die Fenster zu öffnen.
Ich trug die Einkaufstüte in die Küche und begann, alles in den Kühlschrank und das Küchenregal zu legen. Im Kühlschrank war kein Wein mehr, nur noch eine angebrochene Flasche Mineralwasser. Auf dem Küchentisch lagen ein kleines Holzbrett und ein benutztes Messer. Ich nahm die Butter vom Tisch und stellte sie in den Kühlschrank.
Ich ging ins Wohnzimmer. Er lag auf dem Sofa. Ich sah nur seinen Haarschopf, die Decke und am anderen Ende seine nackten Füße, die auf der Sofalehne lagen.
„Wir müssen reden.“
„Was ist denn los? Wegen gestern?“ Er lachte.
„Ich möchte, dass du gehst.“
„Wohin soll ich denn gehen?“
Der Fernseher lief. Wann hatte ich zuletzt auf meinem Sofa gesessen? Die Abende verbrachte ich auf dem alten Sessel oder gleich in meinem Schlafzimmer.
„Ich möchte, dass du gehst.“
Dann schloss ich die Tür.
10cc – I’m Not In Love. https://www.youtube.com/watch?v=2rgepWg4rzw

Montag, 4. September 2017

Die Zuflucht

Du hast dich freiwillig in eine Höhle einmauern lassen. Nur ein kleines Loch ist geblieben, durch das man dir Wasser und Nahrungsmittel reichen kann. Du bist auf deine Besucher angewiesen. Wenn die Menschen dich vergessen, wirst du verhungern und verdursten. Deine einzige Gegenleistung sind deine Worte. Von dem, was du ihnen sagen kannst, hängt dein Leben ab.