Freitag, 24. Dezember 2021

Eine kleine Weihnachtsgeschichte


Sei immer nett zu alten Leuten, hat man mir gesagt. Sei hilfsbereit, sei freundlich. Gerade an Heiligabend. Du wirst ja auch mal alt.

Die Rentnerin lächelte freundlich. Ihrem gütigen Blick hätte niemand widerstanden. Ob ich ihr die beiden schweren Einkaufstaschen in den vierten Stock tragen könnte.

Als wir an ihrer Tür angekommen waren, schloss sie auf. Ob ich zur Belohnung einen Obstler wollte. Wer hätte abgelehnt? Ich brachte die Stoffbeutel in die Küche und folgte ihr ins Wohnzimmer.

Wir plauderten ein wenig. Sie fragte mich nach meinen Familienverhältnissen. Ältere Menschen machen das gerne. Ich sei Single, antwortete ich, keine Kinder. Die Verwandtschaft weit entfernt, derzeit ohne Job.

Sie ging kurz hinaus. Ich dachte mir nichts dabei. Als sie wiederkam, verabschiedete ich mich höflich und stand auf.

Sie lächelte mich an und schüttelte leicht den Kopf. Sie benötige meine Dienste noch ein paar Tage, sagte sie.

Ich ging zur Wohnungstür. Abgeschlossen. Kein Schlüssel im Schloss oder am Schlüsselbrett. In der Hand der alten Dame eine Pistole.

Sie zeigte mir mein Zimmer. Hier hatte früher ihr Sohn gewohnt, der jetzt in Stuttgart lebte. An der Wand hingen noch Poster von ABBA und Boney M. Über dem Bett, auf dem eine karierte Tagesdecke lag, gab es zwei Regalbretter mit den Werken von Karl May und Jules Verne.

Sie kochte ausgezeichnet. Schweinelende in Sahnesoße, Bratwürste, Rinderroulade, Gulasch, Sauerbraten. Salzkartoffeln, Knödel, Spätzle, Bratkartoffeln. Rotkraut, Sauerkraut, Blumenkohl, Wirsing. Rühreier mit Spinat. Niemals, Pommes, Pizza, Sushi oder Cheeseburger. Bürgerliche Küche als Zuchthaus.

Immer, wenn sie einkaufen oder spazieren ging, schloss sie mich in meinem Zimmer ein. Ich habe mehrmals Zettel aus dem Fenster geworfen. „Hilfe! Ich bin bei Frau Strack im vierten Stock gefangen. Bitte rufen Sie die Polizei!“ Keine Reaktion.

Wirklich schlimm waren die Abende. Sie hatte sämtliche Shows von Peter Frankenfeld, Hans-Joachim Kulenkampff, Wim Thoelke, Hans Rosenthal, Rudi Carell und Peter Alexander auf VHS. Dazu gab es Eierlikör und immer die gleiche Knabbermischung.

Zwei Jahre später starb sie. Den Wohnungsschlüssel trug sie um den Hals. Ich öffnete die Tür und war wieder frei.

Information Society - What's On Your Mind (Pure Energy) - YouTube

 

8 Kommentare:

  1. Tolle Geschichte. Hätte allerdings nicht gedacht, dass sie so glimpflich ausgeht. Danke fürs Blog.

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    1. An Weihnachten will ich mal nicht so sein ;o)

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    2. Die schlimme Geschichte kommt zu Hello Wien.
      "Mit Josefine Fritzl im Bonker"

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  2. Strack? Hat der Sohn beim 1. FC Köln Vorstopper gespielt?

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    1. Ja, das war Gerd Strack. Ich hatte aber eher den Schauspieler Günter Strack im Hinterkopf.

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  3. "Früher war mehr Lametta“ ist ein Ausspruch, der aus dem Sketch „Weihnachten bei den Hoppenstedts“ (LORIOT)

    Kawum Kawumm.... 🏭 🧨 🔥
    FROHES FEST 🎄🥂✨💖🎊 lb Mathias... auch hier in die illustre Runde 🤶

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    1. Dir und allen anderen wünsche ich auch ein frohes Fest, liebes Engelchen.

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  4. Zwei Jahre bürgerliche Küche - wie ist der Erzähler durch die Tür gekommen?

    Und welche anderen Dienste meinte die Dame? Einkaufen war es ja nicht (mehr).

    Schöne "suspense"-Geschichte, mag ich :-)

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