Samstag, 11. Dezember 2021

Snowflakes

 

Es schneit und tatsächlich bleibt eine dünne Schneedecke liegen. Ich denke an die anderen Snowflakes. Die Leute, die Angst vor der Impfung haben. Ich habe mit Leuten gesprochen, die tatsächlich glauben, auch nach dreißig Jahren könnten noch Spätfolgen auftauchen. Wie wäre es, wenn neue Medikamente erstmal ein halbes Jahrhundert lang getestet werden, bevor sie ihre Zulassung bekommen? Wie wäre der Winter geworden, wenn es keinen Impfstoff gäbe? Schon jetzt sterben um die fünfhundert Leute pro Tag, bei einer Impfquote von siebzig Prozent.

Meine Mutter, die vorgestern ihren 82. Geburtstag gefeiert hätte, wenn sie nicht schon 1997 gestorben wäre, hätte sich über die Snowflakes kaputtgelacht. Null Verständnis, dafür Häme und Spott. Sie hat jeden Tag geraucht und Wein getrunken, das Kleingedruckte auf den Aldi-Verpackungen nie gelesen und Vegetarier wären gar nicht erst in ihre Wohnung gekommen. Angst vor einer Impfung? Hätte sie nicht verstanden. Und den ganzen mRNA-Kram nicht kapiert. Acht Jahre Volksschule. Das musste in der Nachkriegszeit reichen.

Nach der Scheidung in den frühen Siebzigern hatte sie zunächst eine Halbtagsstelle als Verkäuferin in einer Modeboutique. Später dann eine Vollzeitstelle als Putzfrau in einem Pharmakonzern, den in Ingelheim alle nur „die Firma“ nannten. Am Anfang arbeitete sie in den Labors, in denen die Tierversuche durchgeführt wurden. Oft saß sie abends im Wohnzimmer und weinte. Die Tiere taten ihr leid, die kleinen Affen, die Hunde und die Katzen. Sie trank, rauchte und ging am nächsten Tag wieder hin.

Aber dann wechselte sie innerhalb der Firma die Stelle. Jetzt putzte sie im HPZ, im Human-Pharmakologischen Zentrum. Dort wurden die Menschenversuche durchgeführt. Die Versuchsmenschen blieben vier Wochen dort und durften das Gelände nicht verlassen. Sie bekamen irgendwelches Zeug gespritzt oder schluckten Pillen. Dabei wurden ihre Reaktionen von Wissenschaftlern beobachtet. Damit konnte man eine Menge Geld verdienen.

Meine Mutter verdiente nicht viel. Wir hatten kein Auto und ein Sommerurlaub war auch nicht drin. Es sei denn, sie hatte einen spendablen Freund. Da gab es zum Beispiel diesen Handelsvertreter aus dem Rheingau, mit dessen Ford Granada wir in den späten Siebzigern zweimal in Spanien waren. Also hat sie irgendwann auch mit den Versuchen angefangen. Das Geld konnte die Familie gut gebrauchen. Meistens kamen die Urinproben, die sie zur Kontrolle abgeben musste, von mir. Daher hatte sie auch nie Nebenwirkungen oder Spätfolgen. Die kostenlose Schutzimpfung gegen eine tödliche Krankheit wie Covid-19 hätte sie mit Kusshand genommen.

Mahler: Adagietto Symphony 5 - Karajan* - YouTube

1 Kommentar:

  1. Mütter lieben ihre Kinder mehr, als Väter es tun, weil sie sicher sein können, dass es ihre sind.

    Aristoteles... 🤣 *anonymst*

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