Es war das erste Mal, dass sie
in einem autonom betriebenen Fahrzeug unterwegs war. Lautlos glitt es durch
eine ausgedehnte Parklandschaft und hielt schließlich vor einer gläsernen
Kuppel, die im Sonnenlicht hellblau leuchtete.
Die Eingangshalle war
menschenleer, nur an einem Empfangstresen stand eine Frau hinter einer
meterhohen Plexiglasscheibe.
„Sie sind Kaya Berger?“
„Ja.“
„Sie werden erwartet. Raum 432
im vierten Stock. Der Aufzug ist dort drüben.“
Kaya ging zum Aufzug. Vergeblich
suchte sie ein Tastenfeld. Schließlich sagte sie: „Öffnen“.
Tatsächlich öffnete sich der
Fahrstuhl.
„Vierter Stock.“
Sie stieg aus und stand in einem
langen Flur. Die ganze Decke schimmerte in gelbem Licht, als wären Kerzen
hinter Milchglas verborgen. Sie suchte Raum 432, aber es gab diese Nummer
nicht. Bei Raum 430 endete die Zählung. Sie überlegte einen Augenblick und
klopfte an die Tür von Raum 430.
Nichts. Sie klopfte erneut.
Die Tür wurde geöffnet und ein
älterer Mann mit Halbglatze und einem Kranz wirrer grauer Haarsträhnen stand
vor ihr. Auf seinem Hemd waren Kaffeeflecken und er trug Hausschuhe.
„Was wollen Sie von mir?“
„Entschuldigung“, sagte Kaya,
„ich suche Raum 432.“
„Das ist Raum 430. Können Sie
nicht lesen.“
„Es gibt keinen Raum 432. Können
Sie mir vielleicht weiterhelfen?“
„Waren Sie überhaupt schon mal
hier? Möglicherweise gibt es diesen Raum. Woher soll ich das wissen?“
Kaya schaute ihn schweigend an.
„Versuchen Sie es in der
Zentrale oder in Raum 423. Vielleicht ist es nur ein Zahlendreher.“ Dann
schloss der Mann seine Tür.
Sie ging zu Raum 423. An der Tür
war ein Schild mit ihrem Namen angebracht. Sie drückte die Türklinke. Der Raum
war nicht abgeschlossen. Vor ihr lag ein großes Büro mit Blick auf den Park.
Sie ging hinein und setzte sich auf den Drehstuhl. Die Sitzfläche kippte nach
unten und sie lag auf dem Boden.
Die Tür ging auf. Ein junger
Mann in einem schwarzen Shirt kam auf sie zu.
„Sie sind die neue Kollegin.
Herzlich willkommen! Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit?“
„Das Büro ist sehr schön, aber
der Stuhl ist nicht in Ordnung. An wen muss ich mich in dieser Sache wenden?“
Der Mann kam näher und sah ihr
tief in die Augen. „Für die Büroausstattung bin ich zuständig. Das kann
allerdings eine Weile dauern. Den Bürostuhl müsste ich bestellen.“
Er stand nun unangenehm nahe vor
ihr. Sie konnte seinen Atem auf ihrer Haut spüren.
„Was machen Sie denn heute
Abend, Frau Berger? Essen Sie gerne?“
„Was soll die Frage?“
„Wir könnten vielleicht zusammen
essen gehen. Mögen Sie türkisches Street Food?“
„Verlassen Sie sofort mein
Büro!“
Enttäuscht trat der Mann einen
Schritt zurück. Dann ging er mit einem höhnischen Grinsen und schloss die Tür
hinter sich.
Kayas Handy vibrierte. Sie nahm
das Gerät aus ihrer Hosentasche. Die Nummer auf dem Display sagte ihr nichts.
„Berger.“
„Hallo, Frau Berger“. Eine
freundliche Frauenstimme. „Ich bin Sofia Venturini, die Personalchefin. Kommen
Sie doch bitte zu mir in Raum 612.“
Wenig später saß Kaya vor Frau
Venturini, die überraschend jung war.
„Willkommen in unserem
Unternehmen. Ich hoffe, Sie hatten keine Probleme und haben Ihr Büro bezogen?“
Kaya zögerte einen Augenblick.
Dann erzählte sie, was ihr bisher passiert war.
Die Personalchefin lächelte.
„Das war nur ein kleiner Test.“
„Der Fahrstuhl mit Sprachsteuerung,
der komische Kauz und der Möchtegern-Casanova waren ein Test?“
„Der Fahrstuhl nicht. Der
komische Kauz ist Herr Dombrowski, ein Softwaredesigner. Sie hätten hätte auch an
eine andere Tür klopfen können. Der Casanova war ganz sicher ein Test. Ich weiß
es selbst nicht genau. Es wird permanent getestet.“
Kaya stutzte. „Sie meinen, alles
kann ein Test sein?“
„Ja, Test und Wirklichkeit gehen
in unserem Unternehmen ineinander über. Wenn Sie wissen, dass es ein Test ist,
passen Sie Ihr Verhalten an. Sie reagieren dann so, wie es der Versuchsleiter
erwartet. In unserem Unternehmen ist es anders. Zufällige Vorfälle können als
Test gewertet werden. Tests werden in der Wirklichkeit fortgesetzt, damit sie
den Unterschied nicht merken. Hat der Casanova Ihnen absichtlich einen kaputten
Stuhl hingestellt, um Kontakt mit Ihnen aufnehmen zu können, oder war es ein
geplanter Test? Ich weiß es nicht.“
„Warum nicht? Ich dachte, Sie
hätten das veranlasst. Machen Sie denn keine Tests, Frau Venturini?“
„Doch, natürlich. Aber ich bin
nicht die einzige, die testet. Wir alle führen die Ereignisketten fort, um den
Unterschied von Testsituation und alltäglicher Situation zu verwischen.
Verstehen Sie? Test und Wirklichkeit sind nicht voneinander zu unterscheiden.“
„Also ist mein Stuhl gar nicht
kaputt. Wenn ich in mein Büro zurückgehe, steht dort ein neuer?“
„Nein, Ihr Stuhl ist tatsächlich
nicht in Ordnung. Wenden Sie sich in an ihren Vorgesetzten, Herrn Singh. Er ist
in Raum 401. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg an Ihrem neuen Arbeitsplatz.“
Phil Spitalny Orchestra - Puttin' On The Ritz.
https://www.youtube.com/watch?v=seB5BYvkMXk
Cooler Text, aber weitaus passender:
AntwortenLöschenReinhard Mey, Götz Alsmann, Hannes Wader, Konstantin Wecker
Das Narrenschiff
https://youtu.be/Io3wsn2vPLU
Wie kann etwas passender als meine Texte sein? Vasteh ick nich.
LöschenDas bezog sich selbstverständlich auf den Musik-Link zum Text.
LöschenTEST TEST TEST ...
AntwortenLöschenhttps://www.youtube.com/watch?v=S7SLep244ss
(ړײ)
Hab ich mir jetzt eine halbe Stunde angesehen. Viel Action ist ja nicht, oder? :o)
LöschenTatsächlich durfte ich solche Tests schon öfter durchlaufen. Manchmal war das komisch, manchmal ärgerlich und manchmal sogar lehrreich. Zur Veranschaulichung braucht es da nicht zwingend eine große Firma, nur eine die sich groß fühlt (was auf ziemlich viele Firmen in Deutschland zutreffen dürfte). Lustiger wird es indes, wenn man die Art Test einmal umkehrt (also selber veranstaltet). Man bekommt dann zwar den Job nicht, hat aber auf Jahre hinaus noch was zu Lachen.
AntwortenLöschenAls Analogie würde ich daher auch nicht das Narrenschiff, sondern eher Passierschein A38 bemühen: https://www.youtube.com/watch?v=wAoUNTRFgvM
Von Mey & Friends gibt es übrigens auch etwas neues (altes): https://www.youtube.com/watch?v=1q-Ga3myTP4
Das ist zwar ganz schön kitschig, sollte aber angesichts der aktuellen Entwicklungen etwas positive Wirkung entfalten können.
Ja, der gute alte A38. Die Legende unter den amtlichen Dokumenten ...
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