Samstag, 17. September 2016

Einigkeit und Recht und Freiheit

„Man kann auch unser Leben auffassen als eine unnützerweise störende Episode in der seeligen Ruhe des Nichts. (…) Um allezeit einen sichern Kompaß, zur Orientirung im Leben, bei der Hand zu haben, (…) ist nichts tauglicher, als daß man sich angewöhne, diese Welt zu betrachten als einen Ort der Buße, also gleichsam als eine Strafanstalt (…). Hat man jene Gewohnheit angenommen; so wird man seine Erwartungen vom Leben so stellen, wie sie der Sache angemessen sind, und demnach die Widerwärtigkeiten, Leiden, Plagen und Noth desselben, im Großen und im Kleinen, nicht mehr als etwas Regelwidriges und Unerwartetes ansehn, sondern ganz in der Ordnung finden. Zu den Uebeln einer Strafanstalt gehört denn auch die Gesellschaft, welche man daselbst antrifft. (…) Der schönen Seele nun gar, wie auch dem Genie, mag bisweilen darin zu Muthe seyn, wie einem edlen Strafgefangenen, auf der Galeere, unter gemeinen Verbrechern.“ (Arthur Schopenhauer: Nachträge zur Lehre vom Leiden der Welt)
Wir saßen während der Fußball-WM 2014 vor der Glotze und es kamen mal wieder die zeitraubenden Nationalhymnen, während wir auf den Anpfiff des Länderspiels der DFB-Auswahl warteten. Ich sagte, dass ich sehr gut auf die ganzen Hymnen, den Einmarsch der Mannschaften an der Hand von Kindern und den Rest der Vulgärrituale eines großen Turniers verzichten könnte. Wir wollen doch einfach nur Fußball sehen und nicht – wie im Kino – eine enervierende Vorschau.
Tino sagte in diesem Moment ganz lakonisch, er hätte die deutsche Hymne schon einmal gesungen. Was? Die Hymne gesungen? Niemand in unserem Dorf würde auf die Idee kommen, vor einem Länderspiel die deutsche Hymne zu singen. Ich kenne Tino seit meinen Kindertagen. Also fragte ich ihn, wie er dazu kam, die deutsche Nationalhymne zu singen.
Tino erzählte, er hätte bis 2013 keine deutsche Staatsbürgerschaft gehabt. Obwohl er in unserem Dorf aufgewachsen ist. Obwohl er den örtlichen Dialekt besser spricht als ich. Obwohl er eine deutsche Frau geheiratet hat und mit ihr aktuell zwei Kinder aufzieht. Aber er hätte eben aus Gründen der Wehrdienstverweigerung die deutsche Staatsangehörigkeit vermieden und gegenüber dem italienischen Heimatland seiner Eltern den deutschen Wohnort geltend gemacht. Aber jenseits der vierzig wollte er die Sache doch endlich mal klar machen, denn er würde Schweppenhausen vermutlich ohnehin nicht mehr verlassen.
Und so beantragte er die deutsche Staatsbürgerschaft nach vierzig Jahren Hunsrück, machte den Staatsbürgerschaftstest, bekam die Urkunde und musste am Ende – als einziger Schweppenhäuser, den ich kenne – die deutsche Hymne im Angesicht der deutschen Flagge singen. Ich hätte ja gekotzt. Wie heißt der Bundespräsident? Gaukler? Schmaukler? Wie viele Bundesländer gibt es? Vermutlich Dutzende. Nennen Sie ein deutsches Grundrecht! Selbstgefälligkeit? In Spanien einen auf dicke Hose machen?
Soulful Dynamics - Mademoiselle Ninette. https://www.youtube.com/watch?v=79XU8Vg7eSQ

2 Kommentare:

  1. Leider bin ich nicht so weit wie Schopenhauer, daher regen mich die Dinge noch auf. Aber vielleicht werde ich mit dem Alter weise und abgeklärt. Wie es sich wohl anfühlt, den ganzen Blödsinn schmerzfrei zu beobachten?

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    1. Der Mann wurde sehr alt und hat sich bis zum Ende immer wieder aufgeregt. Vor allem über seinen Erzfeind Hegel. Aber er hat sich sehr ausführlich mit indischer und chinesischer Philosophie befasst. Vielleicht hilft das?

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