Freitag, 2. September 2016

Das war dein Leben, Maikel Dombrowski

„Ich begann mit der Darstellung meines Befindens nicht erst vor Zuschauern, sondern bereits für mich allein, sobald der Entschluss, an diesem Tage mir selbst und der Freiheit zu gehören, (…) zur unabänderlichen Notwendigkeit geworden war.“ (Thomas Mann: Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull)
Die Anfänge meiner außerordentlichen Begabung liegen im Dunkeln. Womöglich war ich als kleines Kind im übermütigen Spiel gestürzt und hatte zu weinen begonnen. Die Mutter rannte herbei und tröstete mich. Das muss mir gefallen haben. Je länger und klagender der Gesang meines Schmerzes wurde, desto größer das Mitleid. Und wenn ich krank im Bett lag, wurde ich den Geschwistern vorgezogen. Die Aufmerksamkeit der Eltern, ja der ganzen Familie konzentrierte sich in diesen glücklichen Momenten auf mich.
Ich erinnere mich an einen Vorfall, der sich anlässlich eines großen Familienfestes, vielleicht einer Hochzeit in der Verwandtschaft, zugetragen hatte. Die Erwachsenen saßen vor einem Gasthaus auf Holzbänken an langen Tischen, wir kleinen Kinder spielten gemeinsam am Bach. Ich wollte einen großen Stein ins Wasser wuchten, er rutschte mir jedoch aus der Hand und landete auf dem Kopf eines Mädchens, das eine blutende Wunde davontrug. Schreiend und heulend rannte ich zu den Erwachsenen, die mich trösteten und zunächst sogar dachten, ich sei verletzt worden.
Als ich zur Schule ging, erkannte ich einen weiteren Vorteil der Krankheit. Mir wurde nicht nur rührende Fürsorge und das fürstliche Privileg zuteil, das Essen ans Bett serviert zu bekommen, ich konnte auch dem Unterricht fernbleiben. Also begann ich Übelkeit und Bauchschmerzen vorzuspielen. Es gelang mir tatsächlich, meine Eltern zu täuschen. Wenn ich an die friedlichen und glücklichen Stunden denke, die ich mit Comicheften und Schokolade im Bett verbrachte, während die anderen Kinder in der Schule Schreiben und Rechnen lernen mussten!
Im Laufe der Zeit gelang es mir, meinen Körper soweit zu beherrschen, dass ich sogar kurzzeitig eine erhöhte Körpertemperatur aufweisen konnte, wenn meine Mutter mir das Thermometer in die Achselhöhle geschoben hatte, oder meinen Puls zu beschleunigen und zu verlangsamen. So kam ich einigermaßen durch die Schulzeit, bis ich zur Musterung antreten musste. Glücklicherweise hatte ich zuvor die Broschüre „Lieber krank feiern als gesund schuften“ eines anarchistischen Autorenkollektivs in die Hände bekommen. So war es kein Problem, meine Wehruntauglichkeit zu bewerkstelligen.
Ich begann, in der Verpackungsabteilung einer Fabrik für Eukalyptusbonbons zu arbeiten. Auch hier leistete mir die Broschüre wertvolle Dienste. Die Symptome eines Lendenwirbelsyndroms hatte ich schnell auswendig gelernt. Vier Wochen war ich jedes Mal krankgeschrieben und durfte mich noch von jungen Frauen auf Krankenkassenkosten massieren lassen. Natürlich wurde dieses Syndrom bei mir chronisch. Die misstrauische Werksleitung schickte mich sogar einmal zum Amtsarzt unseres Kreises, aber auch dieser Prüfung hielten meine darstellerischen Fähigkeiten stand.
Nachdem ich arbeitslos geworden war, legte ich mir einige zusätzliche Defizite zu. So klagte ich über starke Gelenkschmerzen, was mir ein Attest über Gicht einbrachte. Ich nahm sechzig Kilogramm zu und war für das Job-Center nur bedingt einsetzbar. Auch eine Depression und das Tourette-Syndrom gehören zu meinem Repertoire. Zweimal überstand ich krankheitsbedingt nicht die Probezeit an meinem neuen Arbeitsplatz, schließlich wurde ich Langzeitarbeitsloser.
Inzwischen bin ich über fünfzig und freue mich, wenn mich das Job-Center in einigen Jahren in den wohlverdienten Vorruhestand versetzen wird. Im Alter werde ich in einem Heim gepflegt, mich erwarten drei Mahlzeiten am Tag und genügend Muße für ein gutes Buch. Wenn ich nicht so faul wäre, hätte ich schon längst selbst ein Buch geschrieben. Über das Krankfeiern.
The B-52's – Roam. https://www.youtube.com/watch?v=iNwC0sp-uA4
Ein Literaturtipp zum Thema: http://www.theopenunderground.de/@pdf/nurse/lieber.pdf

1 Kommentar:

  1. Weiß ich nicht wie zu nehmen, lasse ebenfalls einen Literaturtipp da: Den dir schon mal empfohlenen Alban Lefranc und sein Buch "Angriffe", in diesem Fall den letzten Teil "Sie waren nicht dabei".

    AntwortenLöschen