Montag, 30. November 2015

Mein Medienmonat

Ohne Kontakt zu den Medien erreichen mich im Urlaub die Nachrichten seltsam gedämpft, und die Welt wird wieder groß. Ein Freund erzählt mir von den Terroranschlägen in Paris. Es berührt mich kaum. So muss sich ein russischer Bauer gefühlt haben, als er vor über hundert Jahren vom Untergang der Titanic erfahren hat. In weiter Ferne hat es ein Unglück gegeben, während ich an jenem Abend Paul Austers „Buch der Illusionen“ gelesen habe. Es gibt zu diesem Ereignis kein einziges Bild in meinem Kopf. Am nächsten Tag widerstehe ich der Versuchung, mir am Kiosk eine Zeitung zu kaufen.
Genau eine Woche nach dem Terroranschlag von Paris sehe ich die ersten Bilder – im Fernsehen. Und zwar ganz anders als erwartet. Freunde von der ZDF-Kulturredaktion hatten mich bei einem Mittagessen im „+39“ ins Hauptstadtstudio eingeladen, sie mal bei der Arbeit zu besuchen. Das war zwei Tage vor den Terroranschlägen. Und so sitze ich, nach einem Gläschen Sekt im Foyer und einem flughafenmäßigen Sicherheitscheck, im Studio in den Hohenzollernhöfen, als die Aspekte-Sendung am 20. November aufgezeichnet wird. Die Sendung beginnt mit dem Thema Terror. Ich sehe die Bilder aus Paris. Auf dem riesigen Studio-Monitor. Ein Interview mit Daniel Cohn-Bendit zu den Anschlägen und den Folgen wird eingespielt (besonders eindrücklich: die Handys der Toten, die endlos klingeln – und niemand nimmt ab). Die arglosen jungen Gesichter der Selbstmordattentäter.
Und dann kommt Salman Rushdie ins Studio. Ich sitze nur wenige Meter von dem Schriftsteller entfernt, auf den seit 1989 ein Kopfgeld von über drei Millionen Euro ausgesetzt ist, weil seine Bücher radikalen Muslimen im Iran und anderswo nicht in den Kram passen. Er wirkt im Interview sehr entspannt. Alle Religionen, so seine These, beruhen auf Angst – nicht nur der Islam. Er träumt den alten Traum einer aufgeklärten Welt, in der Vernunft und Toleranz die Leitplanken des Lebens sind. Gerade dieser Mann, der seit 26 Jahren mit der Angst lebt, strahlt eine Ruhe aus, die mir in den Medien längst verloren gegangen ist.
Ich habe Salman Rushdie gesehen! Jetzt brauche ich nur noch die Enkel, denen ich das erzählen kann. Und dann denke ich an den Terroranschlag des iranischen Geheimdienstes 1992 auf das Restaurant Mykonos zurück, den ich als Augenzeuge miterlebt habe. Die Scheiße hört nie auf. Zwei Kinder kamen nach den wilden sechziger Jahren 1979* auf die Welt: Hardcore-Kapitalismus und Steinzeit-Islamismus. Sie kämpfen miteinander wie die Monster in den Godzilla-Filmen – und wir sind die Opfer, die in diesem Kampf niedergetrampelt werden. Ob wir nun in einem miesen Job ausbluten oder im Krieg.
P.S.: Es gibt keine erfolgreiche Politik ohne Feindbild. Politiker brauchen einen Feind, um ihre Macht zu erweitern und sich als Macher zu inszenieren. 2014 haben wir den Versuch gesehen, das Feindbild „Muslime“ durch das alte Feindbild „Russen“ zu ersetzen. Der kleine Bürgerkrieg in der Ukraine wurde uns als großer Kampf zwischen Demokratie und Despotismus verkauft, „Putin ist der neue Hitler“ usw. Das ist gescheitert (allerdings waren uns die über zweihundert Russen, die durch die gleiche Terrororganisation nur kurze Zeit vorher ermordet worden waren, keine einzige Schlagzeile wert, keine Sondersendung und keine Talkshow – ein toter französischer Europäer zählt ganz offensichtlich mehr als ein toter russischer Europäer, das ist gelebter Rassismus, meine Damen und Herren!). Jetzt läuft wieder die Islamismus-Welle durch die Medien. Machen wir uns auf weitere Terroranschläge gefasst. Auch weil die westlichen Politiker sie brauchen – denn mit jedem toten Bürger können sie die Demokratie und die Rechte der Lebenden weiter beschneiden und den eigenen Handlungsspielraum erhöhen. Alle wollen im Namen ihrer Weltanschauung das eigene Territorium erweitern, an diesem Punkt gibt es zwischen Terrormilizen und Parteien keinen Unterschied.
Velvet Underground – Who loves the sun. https://www.youtube.com/watch?v=FZxSoeKsC3U
*1979 ist das entscheidende Jahr: Thatcher beginnt die neokonservative Revolution in Europa, ihr siamesischer Zwilling Reagan gewinnt die Wahlen in den USA, Ayatollah Khomeini errichtet im Iran einen Gottesstaat (und nimmt die US-Botschaft in Teheran quälende 444 Tage lang in Geiselhaft), die wahabitischen Saudis reagieren auf den islamistischen Terroranschlag in Mekka (330 Tote) mit einem konservativen Rollback, die russische Armee marschiert in Afghanistan ein und zündet damit unwissentlich die Taliban-Bombe. Wenn es um die entscheidenden Jahre in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geht, werden immer 1968 und 1989 genannt. Aber dazwischen gab es auch das ebenso wichtige Jahr 1979, als der Neoliberalismus und der Fundamentalismus ihr hässliches Haupt erhoben. Zehn Jahre später verschwand die dritte Ideologie, der Kommunismus, von der Bildfläche der Geschichte. Benjamin Barber hat in seinem berühmten Buch aus den neunziger Jahren den neuen Konflikt, der den Kalten Krieg ablösen sollte, als „Jihad vs. McWorld“ beschrieben. Er dauert bis heute an, die Anschläge von Paris sind ein Puzzle-Steinchen dieser epochalen Auseinandersetzung – ebenso wie der 11. September 2001.
Robert Oppenheimer. https://www.youtube.com/watch?v=yLvliWuadhQ

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