Mittwoch, 7. Oktober 2015

Neusprech

„Es war einmal ein arm Kind und hatt' kein Vater und keine Mutter, war alles tot, und war niemand mehr auf der Welt. Alles tot, und es is hingangen und hat gesucht Tag und Nacht. Und weil auf der Erde niemand mehr war, wollt's in Himmel gehn, und der Mond guckt es so freundlich an; und wie es endlich zum Mond kam, war's ein Stück faul Holz. Und da is es zur Sonn gangen, und wie es zur Sonn kam, war's ein verwelkt Sonneblum. Und wie's zu den Sternen kam, waren's kleine goldne Mücken, die waren angesteckt, wie der Neuntöter sie auf die Schlehen steckt. Und wie's wieder auf die Erde wollt, war die Erde ein umgestürzter Hafen. Und es war ganz allein. Und da hat sich's hingesetzt und geweint, und da sitzt es noch und is ganz allein.“ (Georg Büchner: Woyzeck)
Wenn es in den Medien um die deutsche Wirtschaft geht, wird die Sprache geradezu lyrisch. Fauna und Flora werden eifrig bemüht. Das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts ist ein „Aufschwung“, ein „zartes Pflänzchen“, das wir natürlich hegen und pflegen müssen. Jeder mag zarte Pflänzchen, jeder möchte diesen hoffnungsvollen Spross beschützen. Aus dem zarten Pflänzchen, das es gibt, solange ich denken kann, ist übrigens nie ein Baum oder etwas anderes Erwachsenes geworden – der Aufschwung bedarf unserer permanenten Fürsorge.
Kommen wir zum Kapital. Es ist ein „scheues Reh“. Jeder mag Rehe, es sind so friedfertige und anmutige Tiere. Wir denken an Bambi, wir denken an eine idyllische Waldlichtung in der Morgendämmerung. Wer von uns wäre so herzlos, diese liebenswerten Geschöpfe zu vertreiben? Auch hier erwacht unser Beschützerinstinkt.
Wie können wir helfen? Wir können „den Gürtel enger schnallen“. Tut uns schwergewichtigen, schwerfälligen und schwermütigen Deutschen das nicht generell gut? Wir können „Lohnzurückhaltung“ üben. Nicht immer gleich so gierig sein, vornehme Zurückhaltung zum Wohle der Pflänzchen und der Rehe, bitte! Auch „Lohnverzicht“, eine Art Heilfasten, eine altruistische Askese zum Wohle „unserer Wirtschaft“, darf es gerne sein.
Es ist diese behutsame pädagogische, priesterliche Sprache, die mit der Kraft einer sanften Poesie für unser Verständnis für die Unternehmen wirbt. Echte Rehe und Pflänzchen gab es übrigens mal an der Landstraße zwischen Schweppenhausen und der Autobahn zu sehen, als ich noch ein Kind war. Jetzt ist dort ein Industriegebiet, Verzeihung: ein „Gewerbepark“.
P.S.: „Entsorgung“ ist auch so ein schönes Wort. Wir ent-sorgen uns, wir befreien uns von den Sorgen. Ganz einfach. Zum Beispiel mit einer Atommülldeponie, die noch bis zum jüngsten Gericht „strahlen“ wird, d.h. mit hochgiftigen Substanzen alles Lebendige verseucht und tötet .
Malaria! - Geld/Money. https://www.youtube.com/watch?v=13OiNFPINKc

7 Kommentare:

  1. Immerhin - ein Unternehmen der Sex-Branche, hinterm Bahndamm angesiedelt, ist und bleibt ein Bums.

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    1. Ich habe heute schon ein neues Wort gelernt: Depiladora. Das bedeutet Schamhaarentfernerin - ein Beruf mit Zukunft. Es wäre schön, wenn du das in deine nächste Geschichte einbauen könntest. smiley

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    2. Darauf einen Glümmerling!

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  2. Neusprech oder Steilvorlagen?
    Wenn das scheue Reh, im Schutze des Unterholzes, am zarten Pflänzchen äst wird der zu bejagende Gürtel enger geschnallt und eine Drückjagd veranstaltet.Die Holzernte in zwei Generationen ist sonst gefährdet.
    Denn wir haben die Erde nur von unseren Kindern geborgt.

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    1. Oder man erschafft eine eigene Sprache: Das Kapital ist das Raubtier, das es zu erlegen gilt. Aus seinem Fell machen wir Kleider für unsere Kinder. Und das zarte Pflänzchen Wachstum wird zur Reife gebracht und dann geerntet. Wenn wir uns an den Früchten unserer Arbeit sattgegessen haben, machen wir den Gürtel etwas weiter ;o)))

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  3. Herr Eberling, Herr Bonetti lesen Sie etwas mehr Milton Friedman oder Thomas Sowell. Da gehts ganz ohne Neusprech. Und es ist gut und interessant. Ohne Wirtschaft, Unternehmen und freiem Markt geht es eben auch nicht. Da wäre es eben bitter mit fanzösischem Wein in der deutschen Provinz.

    Und hören Sie auf in die Zeitung zu schauen! Das bringt doch nichts. ^^

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    1. Aber ich habe auch leicht reden. Ich bin nun ein böser knallharter Kapitalist. Aufgewachsen allerdings in der DDR. Mensch da war es toll!!!

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