Donnerstag, 29. Oktober 2015

Ganz unten

„Er hatte mich nicht gehört. Ganz in sich versunken saß er in seinem Sessel. Ich wusste nicht, ob er schlief oder wach war, ob er lebte oder längst gestorben war. Aus müden halbgeöffneten Augen starrte er ins Leere.“ (Lupo Laminetti)
Brief an eine Freundin, 12.9.2013:
Du hast Recht. Das alte Leben, Schriftsteller mit leichtem Reisegepäck, ist vorbei. Als mich mein Vater in Berlin abgeholt hat, stand ich in meiner unvermeidlichen Jeans-Jacke und mit ein paar Habseligkeiten in einer Aldi-Tüte vor dem Haus. Ich habe das Träumer-Leben bis zum Mai dieses Jahres ausgereizt, jetzt ist es verschwunden. Aus dem leichten Gepäck ist ein Nichts geworden. Alles, was mir in meinem alten Leben Spaß gemacht hat, ist weg. Ich kann nicht mehr lesen, oft lege ich nach einer halben Seite das Buch angeekelt weg. Schreiben geht auch nicht mehr. Welche Geschichten sollte ich noch erzählen? So liege ich wie Kafkas Käfer hilflos in meinem Bett und schaue den anderen beim Leben zu. Es ist, als wäre eine Glaswand zwischen mir und den anderen Menschen. Ein wenig neidisch schaue ich auf die Leute um mich herum, die wie selbstverständlich ihr alltägliches Leben mit den vielen kleinen Verrichtungen führen. Sie haben ihre Arbeit, ihre Familie, sie tragen Verantwortung, während mein Leben vollständig von der Krankheit beherrscht wird. Müdigkeit, Lustlosigkeit, Kraftlosigkeit. Die Matratzengruft in Schweppenhausen. Im Juli und August war es sehr schlimm, da wollte ich nicht mehr leben. Jetzt ist es etwas besser und ich habe diese Woche sogar zum ersten Mal Freunde getroffen. Seit kurzem habe ich auch eine Therapeutin, die mir mühsam das Lächeln beigebracht hat, das ich tatsächlich über die letzten Monate vergessen hatte. Es wird noch lange dauern und manchmal denke ich, dass ich einfach krank bleibe. Den Rest meines Lebens werde ich im Bett liegen bleiben ...
Brief an eine Freundin, 17.9.2013:
Bei der Psychotherapeutin ging es gestern um meine Mutter. Ihre Alkoholsucht habe meine Erziehung beeinträchtigt, ich sei quasi Halbwaise gewesen. Der Vater war bei uns ausgezogen, als ich in der ersten Klasse war. Meine Schwester hätte das alles besser verarbeitet, Mädchen wären da generell stärker. Ich will nicht erwachsen werden, sagt sie. Immer nur Jeansjacke, wichtige Entwicklungsaufgaben nicht bewältigt, jetzt stehe ich ohne Frau und Kind, ohne Beruf und Haus da. Stimmt schon, ich bin ein ewiger Jugendlicher, der für das Erwachsenenalter keinen Plan hat. Ich dachte eben, das geht immer so weiter. Sie empfahl mir statt den alten Schwerpunkten Lesen und Schreiben die Niederungen des Lebens, den Alltag inklusive Haus- und Gartenarbeit. Analyse ist okay, die Ratschläge sind aber unbrauchbar für mich …
Brief an eine Freundin, 12.10.2013:
Bei mir war auch einiges los: Am 2. Oktober habe ich aus Frust über meine Krankheit am helllichten Tag eine Flasche Schnaps geleert. Mein Vater fand mich bewusstlos auf dem Boden liegend und holte einen Notarzt. Auf der Intensivstation des Kreuznacher Krankenhauses bin ich wieder aufgewacht. Mit allen Apparaten drum herum, einer Kanüle im Arm und einem Katheter im Schwanz. Zwei Tage später schickten mich die Ärzte in die Nervenheilanstalt, weil sie die Sache als Selbstmordversuch gewertet haben. Zwei junge, höfliche, blonde Menschen banden mich an einen Stuhl fest und brachten mich nach Simmern. Dort war ich vier Tage unter den Bekloppten. Mein Zimmergenosse schlief jede Nacht auf dem Gang in einem abgestellten Bett und geisterte den ganzen Tag durch die Station. Er hat kein Wort mit mir geredet und kam nur gelegentlich in unser Zimmer, um eine Weile stumm aus dem Fenster zu schauen. Dann gab es den Typen, der ständig gelabert hat und mir schon beim Frühstück Beleidigungen und Drohungen an den Kopf geknallt hat. Zwanzig Jahre Psychiatrie sage ich nur. Dazu die Sorte Dorftrottel, die stumm durch die Gänge torkeln sind und Grimassen schneiden. Dazwischen einen depressiven Alten, Millionär – aber ohne Seele nach eigener Auskunft. Oder die nette Frau, die wegen Medikamentenentzug zwei Monate in dieser Hölle verbringen muss, obwohl sie normal ist. Ich habe praktisch den ganzen Tag im Bett gelegen und nur die Wände angestarrt. Jetzt bin ich wieder zu Hause, aber es geht mir immer noch schlecht. Ich habe nicht mehr das Gefühl, nochmal gesund zu werden, und quäle mich durch die öden Stunden meines Lebens.
Brief an eine Freundin, 24.10.2013:
Meine Krankheit ist für Außenstehende schwer zu verstehen. Vielleicht hilft dieses Bild: Ein winziges, kaum lausgroßes Insekt bewegt sich unendlich langsam und dennoch verstörend konstant über das Gebirge der Raufasertapete an meiner Wand. Es muss vor Stunden losgegangen sein, um in mein Blickfeld zu kommen, und es wird Stunden brauchen, um es wieder zu verlassen. Während ich es beobachte, frage ich mich: Fühlt es sich schwach, hilflos oder einsam? Vermutlich nicht. Aber ich bin schwach, hilflos und einsam. Das Insekt ist stärker als ich. Das bedeutet Depression.
Brief an eine Freundin, 10.11.2013:
Inzwischen geht es mir wieder etwas besser. Nachdem der letzte Monat von Gedanken an ein Leben in der Irrenanstalt und Selbstmord geprägt war, hat sich im November eine dünne Schicht neues Selbstbewusstsein gebildet. Oder besser: Angstfreiheit. Ich gehe alleine spazieren und besuche Freunde. Lesen klappt auch wieder, gestern und heute jeweils 150 Seiten Hemingway. Eigentlich hätte ich hier die Situation, die du von Edvard Grieg schilderst: Idylle, Ruhe, viel Platz und Zeit für die Kunst. Aber der Schriftsteller und Lebenskünstler aus Berlin ist hier im Hunsrück zu einem langweiligen alten Mann geworden. Kreativität, Humor und Optimismus sind vergangen, der Blick auf mein Leben ist nach dem Abschied von Alkohol und Drogen buchstäblich nüchtern und ernüchternd. Das Licht ist aus – hoffentlich nicht für immer.
Edvard Grieg: Morgenstimmung. https://www.youtube.com/watch?v=GyobDmGPhKI
Tagebuch, 6.4.2014:
Nachmittags Bundesliga bei J., danach ein paar Stromberg-Folgen. Auf dem Nachhauseweg war die Dorfkneipe schon geschlossen (um 20 Uhr!) und in der Dorfpizzeria ist niemand ans Telefon gegangen. Nachts habe ich von einem ausgedehnten Spaziergang durch Wilmersdorf geträumt, ich sah prächtige stuckverzierte Altbauten und ausgedehnte Schmuckplätze. Ich bin dann mit meinem Gepäck, das ich die ganze Zeit trug, in ein Gasthaus eingekehrt. Ich habe Bier getrunken und Krebsfleisch auf Brot gegessen. Bei der Suche nach der Toilette auf dem Hinterhof habe ich mich verlaufen. In einem weiteren Traum habe ich mit ein paar Komplizen die Zentrale einer Mafiaorganisation ausgeraubt. Wir sind eingebrochen und haben das viele Geld in Pakete verpackt, die wir in der Poststelle des riesigen Gebäudes abgelegt haben. Dann haben wir einzeln und verkleidet (einer sogar als Tiger!) das Gebäude verlassen, die Beute würde uns in den nächsten Tagen per Post erreichen.
Tagebuch, 16.1.2015:
Ich kann mich noch genau an den Anfang vom Ende erinnern. Es war am 26.5.2013 gegen 15 Uhr, ich sah gerade den Monaco-Grand Prix im Fernsehen. Am nächsten Morgen war ich endgültig hinüber. Das Ende vom Ende war in den ersten Novembertagen 2013. Dazwischen dachte ich wirklich, alles wäre vorbei. Für immer.
New Order - True Faith. https://www.youtube.com/watch?v=zzeNAUOp17c

3 Kommentare:

  1. Traurige Geschichte.

    Mega gutes Lied.

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  2. Ja, traurig, aber das Ende vom Ende steht? Solche Reisen in die traurigen Abgründe machen aber manchmal Sinn... wenn man es hinter sich hat.

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    1. Es liegt jetzt genau zwei Jahre zurück - und es war tatsächlich das Ende dieses Purgatoriums. Ich hoffe, dass es keinen Rückfall mehr geben wird. Ich lese und schreibe mehr als je zuvor, ich genieße das Leben viel bewusster als vor diesem halben Jahr in der Hölle.

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